„Giselle“ von Patrice Bart. Tanz: Ensemble.

„Giselle“ von Patrice Bart. Tanz: Ensemble.

Große Tanzkunst zum Saisonende

Myriam Ould-Braham und Germain Louvet in Patrice Barts „Giselle“ an der Pariser Oper

Bis heute zeigt sich die Kompanie in „Giselle“ meist in ihrer allerbesten Form. In der diesjährigen Aufführungsreihe machten sich allerdings gewisse Ermüdungserscheinungen bemerkbar.

Paris, 18/07/2022

Das Ballett „Giselle“, das 1841 an der Pariser Oper uraufgeführt wurde, ist nicht nur der Höhepunkt des romantischen Balletts, sondern auch der Geschichte des Pariser Opernballetts. Sein Erfolg beruht unter anderem darauf, dass in dem Libretto, das Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges nach einer Episode aus Heinrich Heines „Elementargeistern“ verfassten, der Tanz natürlich aus der Handlung entspringt: Es geht darin um das Bauernmädchen Giselle, die den Tanz zu sehr liebt und oftmals die eh schon tanzfreudigen Dorfbewohner um sie herum zum Tanzen auffordert. Besonders gerne tanzt sie mit ihrem Verehrer Albrecht, der allerdings ein verkleideter Adeliger ist und bereits einer anderen versprochen, sodass Giselle am Ende des ersten Aktes an ihrem gebrochenen Herzen stirbt.

Der zweite Akt spielt unter den Willis; diese tanzwütigen weiblichen Geister zwingen alle Männer, die ihnen begegnen, sich zu Tode zu tanzen. Giselle wird nach ihrem Tod zur Willis und muss mit dem reumütigen Albrecht tanzen, bis dieser vom Morgengrauen, das die Geister wieder in ihre Gräber verweist, gerade noch vom Erschöpfungstod bewahrt wird. Anders als die langen Tanzpassagen vor allem im 2. Akt sind die Pantomimeszenen, die im 19. Jahrhundert die Hälfte des Balletts ausmachten, heute drastisch gekürzt; sie beschränken sich hauptsächlich auf Erklärungen und Überlegungen von Albrechts Rivalen Hilarion, der Giselle liebt und Albrechts Betrug aufdeckt, sowie eine lange Szene, in der Giselles Mutter den Dorfbewohnern von den männermordenden Willis im Wald erzählt. Obgleich diese Szenen manchem uneingeweihten Zuschauer unverständlich bleiben, bilden sie einen reizvollen Teil von Patrice Barts traditionsbewusster Fassung aus dem Jahr 1991, die heute im Repertoire der Kompanie ist. Adolphe Adams Partitur trägt hingegen wesentlich zum Verständnis der Handlung bei, unter anderem durch die Verwendung von Erinnerungsmotiven, die damals in der Ballettmusik neu waren.

Bis heute zeigt sich die Kompanie in „Giselle“ meist in ihrer allerbesten Form. In der diesjährigen Aufführungsreihe – die letzte Serie, die direkt vor dem Beginn der Coronakrise stattfand, war durch die Streiks um Emmanuel Macrons Rentenreform schwer beeinträchtigt – machten sich allerdings gewisse Ermüdungserscheinungen bemerkbar: Das Corps de Ballet war etwas weniger synchron und schwerelos in den Willis-Szenen des 2. Aktes, die Étoile Alice Renavand verletzte sich in ihrer Abschiedsvorstellung auf offener Bühne, und die Solisten in den Nebenrollen kämpften in mehreren Vorstellungen sichtbar mit ihren Partien. Umso erfrischender war es, dass die Spielzeit mit einer nahezu perfekten Besetzung schloss, die leider nur zweimal zu sehen war: Myriam Ould-Braham als Giselle und Germain Louvet als Albrecht. Von dem Moment an, in dem Ould-Braham leichtfüßig aus ihrer Hütte gesprungen kam, nahm sie die Zuschauer dank ihrer Natürlichkeit, ihres Charmes und ihrer Frische ganz in die Welt des Balletts mit. Anders als manche Étoiles, die nicht mehr recht an die Rolle zu glauben scheinen, war Ould-Braham, die in zwei Jahren bedauerlicherweise in Rente geschickt wird, ein Inbegriff berührender Unschuld. Jede Bewegung der bekannten Choreographie schien ein spontaner Ausdruck ihrer Stimmung und Gedanken. So nahm es nicht wunder, dass Germain Louvets eleganter Albrecht über diesem Anblick seinen adeligen Status und seine prachtvoll kostümierte Verlobte (Marion Gautier de Charnacé) vergaß. Ould-Braham und Louvet, die erst seit kurzem miteinander tanzen, bilden ein harmonisches Paar, da beide die Gabe haben, die Choreographie neu und spannend erscheinen zu lassen, jugendlichen Enthusiasmus verströmen und sich durch ihre exzellente Linie, solide Technik (trotz kleiner Unsicherheiten in Giselles Variation im 1. Akt) und Leichtigkeit auszeichnen.

Beide gehören auch zu den wenigen Tänzern, die sowohl im ersten als auch im zweiten Akt überzeugen. Ould-Braham ist überwältigend als Willis: Sie scheint den Boden nur aus Rücksicht auf ihren irdischen Geliebten zu berühren, ihre perfekt gerundeten Füße flattern mit einer Geschwindigkeit über die Bühne, der das Auge kaum zu folgen vermag, und ihre Arme wehen wie von einem zarten Windhauch bewegt. Zudem verleiht sie ihrer Rolle eine Vielzahl an subtilen Nuancen, beispielsweise die zarte Traurigkeit über ihre verlorene Liebe, ihre vergebende Zuneigung zu Albrecht und das Alternieren zwischen weicher, fließender Hingabe und dem leichten Widerwillen, mit denen sie sich unter Myrthas magischem Einfluss von Albrecht entfernt. Ihr reumütiger Geliebter begeisterte vor allem durch eine Variation (mit exzellenten Cabrioles zu Beginn) und eine Serie von Entrechats six auf allerhöchstem Niveau. Einige Details der Partnerschaft, beispielsweise die großen Hebungen zu Beginn des Pas de deux, müssen zwar noch ausgefeilt werden, doch ändert dies nichts daran, dass sich hier ein höchst vielversprechendes Paar gefunden hat.

In den weiteren Rollen waren die technisch souveräne Bleuenn Battistoni an der Seite des hochmotivierten, aber leicht überforderten Axel Magliano im Bauern-Pas de deux, der sprunggewaltige Florent Mélac als Hilarion und Valentine Colasante als energische, unerbittliche Myrtha zu sehen. Das Orchester erwies unter der inspirierten Leitung von Benjamin Shwartz Adams Partitur alle Ehre, wenngleich es gegen Ende des 2. Aktes erstaunlicherweise fast bis zum Stillstand verlangsamte. Nach dem Dirigenten kam in dieser letzten Vorstellung der Saison auch noch die Ballettdirektorin Aurélie Dupont auf die Bühne, die nach einer recht turbulenten Direktionszeit kürzlich zurückgetreten ist – man wartet gespannt auf die Ankündigung, wer die Kompanie in die hoffentlich weniger krisengeschüttelte nächste Spielzeit führen wird.

 

Besuchte Vorstellung: 16.7.22

 

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