„Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier. Tanz: Madoka Sugai, Alessandro Frola, Ensemble

„Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier. Tanz: Madoka Sugai, Alessandro Frola, Ensemble

Ein (ge)wichtiger Auftakt

Mit der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ eröffnet John Neumeier seine 50. und vorerst letzte Spielzeit als Ballett-Intendant in Hamburg

Das Signaturstück des Hamburg Ballett hat auch nach fast 50 Jahren nichts von seiner dramatischen Wucht und gleichzeitig seiner filigranen Transparenz verloren.

Hamburg, 20/09/2022

Es ist schon etwas Besonderes und spricht für die Qualität einer Choreografie, wenn sie auch 50 Jahre nach ihrer Uraufführung nichts von ihrer Aktualität und kreativen Besonderheit verloren hat. Auf John Neumeiers am 14. Juni 1975 erstmals gezeigte „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ trifft das zweifelsfrei zu. Schon ein Jahr zuvor, im Juli 1974, hatte er den vierten Satz der Sinfonie unter dem Titel „Nacht“ kreiert, damals für das Stuttgarter Ballett mit Marcia Haydée, Egon Madsen und Richard Cragun, die sich seinerzeit nach dem Tod von John Cranko noch im Schockzustand befanden, was sich auch in diesem Pas de Trois spiegelt, in der Verlorenheit und Orientierungslosigkeit, der Verzweiflung und Einsamkeit, die der Tanz darin atmet, aber eben auch den Trost und Halt in der Gemeinsamkeit, im Miteinander und Füreinander.

Die „Dritte Mahler“ ist das wohl am häufigsten auf Gastspielen gezeigte Werk Neumeiers, das nur an ganz wenige andere Kompanien vergeben wurde (an das Ballet de l’Opéra National de Paris, das Königlich Dänische Ballett und das Königlich Schwedische Ballett). Bis heute gilt es als DAS Signaturstück des Hamburg Ballett schlechthin. „Wir haben dieses Werk in mehr Städten, in mehr Ländern getanzt als jedes andere Ballett“, schreibt John Neumeier im Programmheft. „Es ist eine Kreation, die von wechselnden Generationen im Ensemble lebendig gehalten wurde …“ Weshalb es nur stimmig ist, dass genau diese Kreation jetzt Neumeiers vorerst letzte Spielzeit eröffnet. Immer noch ist – zumindest für die Öffentlichkeit – unklar, wer ab 2023/24 seine Nachfolge antreten wird.

Es erscheint Fluch und Segen zugleich, wenn man als Rezensentin über die Jahrzehnte hinweg dieses Werk in allen nur denkbaren Besetzungen erleben durfte. Ein Fluch, weil sich damit prägende Bilder mit den Tänzer*innen-Generationen aus vergangenen Jahren im Kopf festgesetzt haben, mit denen sich jede neue Besetzung zu messen hat. Es war eine Zeit, in der die künstlerische Qualität des Ensembles auf einem Höhepunkt war, der heute nur noch von wenigen einzelnen erreicht wird. Zu dieser Blütezeit gehörten Tänzer*innen wie Marianne Kruuse, Zhandra Rodriguez, Lynne Charles, Gigi Hyatt, Anna Polikarpova, Chantal Lefèvre, Heather Jurgensen, Joelle Boulogne, Hélène Bouchet und Silvia Azzoni bei den Damen sowie François Klaus, Truman Finney, Max Midinet, Gamal Gouda, Jeffrey Kirk, Ivan Urban, Jiri und Otto Bubenicek, Lloyd Riggins, Carsten Jung und Alexandre Riabko bei den Herren. Es erscheint ein bisschen ungerecht, die hohen Maßstäbe, die diese Tänzer*innen gesetzt haben, an die Jungen von heute anzulegen – woher sollen sie die Entwicklungschancen nehmen, die die Generation damals noch hatte? Woher sollen sie vor allem die Vorbilder nehmen, wenn die „alten“ Tänzer*innen kaum noch besetzt werden? Was umso unverständlicher erscheint, als zumindest Alexandre Riabko und Silvia Azzoni ja noch im Ensemble sind und weiterhin durchaus in der Lage wären, ihre Rollen zu tanzen – wenigstens eine der insgesamt nur vier Vorstellungen im September hätte man ihnen anvertrauen können. Der jungen Generation würde es jedenfalls guttun, solchen Vorbildern nacheifern zu können. Das geht aber nur, wenn sie sie auch auf der Bühne erleben können.

Diese großen Solist*innen gesehen zu haben, ist aber vor allem ein Segen. Man weiß dann, wie so ein komplexes sinfonisches Werk wie die „Dritte Mahler“ kongenial getanzt werden kann: indem man alles in den Tanz hineinlegt, dessen ein Mensch fähig ist. Genau das haben die Protagonist*innen seinerzeit getan, und es scheint, als falle gerade dies der heutigen Generation so schwer – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Mahlers dritte Sinfonie stellt diese Anforderung in mehrfacher Hinsicht. Sie ist emotional, sie berührt im Innersten, sie bewegt in ihrer Vielschichtigkeit, in ihrer Kraft, aber auch in ihrer Zartheit und Schönheit Körper, Geist und Seele gleichermaßen in besonderer Intensität. John Neumeier hat dazu eine einzigartige Choreographie entworfen, die der Musik in nichts nachsteht, die sie sogar im Grunde erst – so befremdlich das für Musiker*innen klingen mag – vollständig werden lässt. Neumeier komplettiert die kontrastreiche Musik, bei der sich Düsternis und Schwere mit Heiterkeit und Leichte abwechseln und schließlich in einem furiosen, alles versammelnden und versöhnenden Finale münden, mit wirkmächtigen Bildern, mit hochgradig anspruchsvollen Pas de Deux und Pas de Trois und Pas de Quatre, mit einer Vielzahl ineinanderfließender Formationen für das ganze große Ensemble, die ebenso viel technisches Können erfordern wie auch eine hohe individuelle tänzerische Ausdrucksfähigkeit. Damit hat auch Neumeier choreografische Maßstäbe gesetzt, die heute nur noch selten erreicht werden.

Schon der erste Satz „Gestern“, ausschließlich den Männern vorbehalten, entfaltet eine einzigartige Wucht und Faszination. Man kann sich gar nicht sattsehen an all den vielen verschiedenen Schritten und Formen, die Neumeier da erfindet. Zum lebendigen Kontrast dazu gerät dann der leicht-luftige zweite Satz „Sommer“, bei dem sich der hintere Prospekt der bislang komplett schwarz abgehängten kulissenfreien Bühne hebt und einem gleißenden Weiß Raum gibt, dem Licht, nach der Düsternis des Anfangs. Zwei Paare und ein Frauenensemble entfalten jetzt die Heiterkeit und Freude der warmen Jahreszeit. Ähnlich auch der dritte Satz „Herbst“, der in seiner choreografischen Harmonie und Vielfalt wiederum den Paaren viel Raum gibt. Die Schwere bringt dann der vierte Satz zurück: Er enthält nach einem stillen Teil für den Pas de Trois „Nacht“ das schwermütige Alt-Solo zu dem tiefgründigen Gedicht von Friedrich Nietzsche aus dessen „Zarathustra“ („Oh Mensch, gib acht, was spricht die tiefe Mitternacht“), wunderbar gesungen von Katja Piewek, gefolgt vom fünften Satz mit dem heiter-fröhlichen Kinder- und Damenchor zu dem Engel-Solo (der Chorgesang wird aus Platzgründen live aus dem Chorsaal der Oper übertragen, eine kleine organisatorische Meisterleistung!). Und dann der grandiose Schluss, der sechste Satz mit „Was mir die Liebe erzählt“, in dem das ganze Ensemble noch einmal zeigen kann, was in ihm steckt. Magisch die letzten Takte, wenn der Engel, unerreichbar für den Menschen und doch immer gegenwärtig, am vorderen Bühnenrand ganz langsam zu den wuchtigen Paukenschlägen von rechts nach links entlangschreitet, während der Mensch vergeblich sehnend die Arme nach ihm ausstreckt.

Wen gilt es hervorzuheben in diesem sehr besonderen Ensemble des Hamburg Ballett? Da sind vor allem Madoka Sugai und Alessandro Frola, die im zweiten Satz einen hinreißenden Pas de Deux hinlegen und mit ihrer Bühnenpräsenz ein ideales Tanzpaar darstellen. Da ist Karen Azatyan, der seine Soli mit zwingender Präsenz präsentiert – man darf gespannt sein, wie er in der zweiten Besetzung am 23. September die Hauptrolle ausfüllt. Da ist Ida Sofia Stempelmann, die mit lebendiger Frische und gezielter Fokussierung überrascht. Da ist Edvin Revazov, der den großen, sich durch alle Sätze ziehenden männlichen Solopart zwar kraftvoll durchträgt, aber doch ein wenig die innere wie äußere Spannung vermissen lässt, die diese Rolle erfordert. Und da ist natürlich Olga Smirnova als Gast, der Neumeier den schwierigen Part des Engels anvertraut hat. Sie hat erst vor wenigen Monaten ihre Karriere als Primaballerina am Bolshoi-Theater drangegeben, weil sie, wie sie in einem Interview mit dem „Hamburger Abendblatt“ sagte, dort angesichts des Krieges gegen die Ukraine das, woran sie glaube, hätte zurücknehmen müssen, und das wollte sie nicht tun: „Man kann Kunst und Künstler von der Politik trennen. Aber das ist nur bis zu einem gewissen Punkt möglich. Ich hatte mit Politik nichts zu tun, aber als der Krieg begann, hatte ich das Gefühl, dass wir diesen Punkt weit überschritten haben. Dass man nicht gleichgültig bleiben kann und eine Entscheidung treffen muss, die wahrscheinlich nicht die Welt verändern wird, aber man kann sich selbst gegenüber treu und ehrlich bleiben.“ Es war ein vielbeachteter Paukenschlag in der internationalen Ballett-Szene, und eine Star-Solistin wie Smirnova hat es nicht schwer, eine neue Heimat zu finden. Für sie war es das Niederländische Nationalballett, Verpflichtungen als Gastsolistin ermöglichen weitere Freiräume.

Olga Smirnova tanzt diesen Engel mit der ihr eigenen Noblesse und Eleganz und technisch natürlich absolut lupenrein – da ist kein Schritt hörbar, es ist, als schwebte sie auf der Musik. Und doch vermisst man etwas, wenn man sie mit eben den großen Tänzerinnen der Vergangenheit vergleicht. Es fehlt das ganz gewisse Etwas, das diese Rolle braucht, um ihre zwingende Strahlkraft zu entwickeln, dieser ganz spezielle Spirit, den man vielleicht nur ausprägen kann, wenn man über längere Zeit im Hamburg Ballett herangewachsen ist und dort gearbeitet hat.

Markus Lehtinen leitete das Philharmonische Staatsorchester mit sicherer Hand durch die anspruchsvolle Partitur und hatte die Bühne stets mit im Blick. So vereinten sich an diesem Abend Musik und Tanz wahrlich zu einem ebenso wichtigen wie gewichtigen Gesamtkunstwerk. Das Publikum in der endlich wieder ausverkauften Staatsoper bejubelte alle Beteiligten gleichermaßen und erhob sich für den Ballett-Intendanten zu Recht zu stehenden Ovationen.
 

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