„Aye Aye Captain“ von Tom Weinberger

„I am large, I contain multitudes“

„Dancing Voices“ am Luzerner Theater

Der Name ist hier Programm: Tänzerinnen und Tänzer setzen ihre Stimmen ein

Luzern, 16/10/2022

Stimmig ist trotz der Unterschiedlichkeit beider Werke diese erste Premiere der Tanzsparte am Luzerner Theater, das kann man vorwegnehmen: Der Abend vereint Kreationen von Tom Weinberger und Marion Zurbach, für deren Bühne, Kostüme, Licht und Dramaturgie jeweils dasselbe Team verantwortlich zeichnet (Caro Stark, Silvia Romanelli, Petri Tukhanen und Wanda Puvogel).

Wie der Titel des Abends verrät, ist der Einsatz der Stimme die konzeptuelle Klammer für beide Werke, ungewöhnlich für einen Tanzabend. Unterstützt durch Stimmtraining von Christian Tschelebiew aus dem Opern-Ensemble stellten sich die Tänzer*innen der besonderen Herausforderung. Und meistern diese bravourös, auch das vorweg.

Für das Auftaktstück des Abends „Aye Aye Captain“, das der aus Israel stammende Tom Weinberger konzipiert, geschrieben und choreografiert hat, musste gar ein 30-seitiges englisches Skript auswendig gelernt werden. Mit radiotauglicher Stimme und Intonation stellt sich Mathew Pritchard in souveräner Conférencier-Manier in elegantem weißem Anzug als Host des Abends vor. Eine kurze Aufforderung an das Publikum für ein gemeinsames, bewusstes Ein- und Ausatmen – ach, wie schwierig ist es doch, den rastlosen Geist zu bändigen, wo doch das Treiben im Bewusstseinsstrom so einfach ist. In einen solchen entführen die Tänzer*innen, die zu Beginn nacheinander an die Mikrofone treten, das Publikum. In die Welt „wo das Meer auf den Himmel trifft“, wunderbar abgebildet vom schlichten hellblaugrauen Bühnenraum. Mit ihren Stimmen und unterstrichen durch Matan Daskals Sounddesign führt das Ensemble Regie in einem assoziativen, berührenden und surreal anmutenden Kopfkino. Es lässt mit der Vielfalt an Stimmen und Personen (und durchaus auch mal ein Fisch!) an Walt Whitmans berühmte Gedichtzeile „I am large, I contain multitudes“ denken. Aber nicht, dass der Eindruck entstehe, es sei Sprechtheater, mitnichten: Mal staccatohaft, mal fließend, fast, als würden sie sich unter Wasser bewegen, kommentieren die Bewegungen der Tänzer*innen den Text. In einer Präzision, wie nur sie sie bieten können, akzentuiert immer wieder auch durch die Lichtgestaltung. Und zum Schluss ein fulminantes Solo von Andrea Lippolis (Hospitant in dieser Spielzeit), ein vergeblicher Ausbruchsversuch unter den Augen der anderen, der Vielheiten. Am Ende mit ihnen unisono vereint in einem kollektiven Ausatmen. Großartig.

Tanzdirektorin und Dramaturgin Wanda Puvogel charakterisiert „Reef“, die Neukreation der Französin Marion Zurbach, als Bewegungslandschaft. Im zweiten Teil des Abends entfaltet diese sich auf einem suggestiven Klangteppich, den Michael Anklin und Franz-Christian Schaden aus den Stimmen der Tänzer*innen gewoben haben, in einer zunächst düsteren Szenerie mit sackartigen Gebilden, die in Anlehnung an den Titel durchaus ein Riff, eine Felsenlandschaft evozieren. Auf diese zu bewegen sich die Tänzer*innen, gehüllt in schlafsackähnliche Decken (die später auch noch als Poncho, Rock und wulstartiger Schal zum Einsatz kommen und die in energieknappen Zeiten die Wintergarderobe bereichern könnten). Als amorphe, nicht zu deutende Wesen verschmelzen sie mit dem Untergrund, aus dem sie sich dann als glühäugige Geschöpfe herausschälen. Hinreißend marschieren diese in völliger Dunkelheit zum Chanson „L’homme armé“ auf ein dunkles Loch im Bühnenboden zu, in das sich auch das letzte tanzende Augenpaar nach unschlüssigem Hadern noch stürzt. Um sich dann wieder zusammenzufinden in Szenen, die keine Geschichte erzählen, aber die immer gemeinschaftliche Momente abbilden und evozieren, immer untermalt von dem soghaften Stimmteppich, mehr Laute und Schreie als Worte. Kieksende und keckernde animalische Töne lassen an einer Stelle fast an eine Urwald-Szenerie mit Mogli & Co. denken. Und dann an ein schamanisches Ritual, ein gegenseitiges Erspüren in einem Naturraum. Unerwartet dann der Moment, in dem sich eine Diskokugel herunter senkt, das kitschige „Dreams are my Reality“ erklingt und sich das Ensemble beseelt zu linkischen Paartänzen zusammenfindet. Gebe es auch ein Geruchsdesign, so würde wohl der Dunst von Marihuana durch dieses „Wir haben uns alle lieb“-Geschehen wabern.

Und auch in Marion Zurbachs Stück stellt das Ensemble ganz am Schluss nochmal unter Beweis, dass sie nicht nur sprechen und Töne produzieren können, sondern auch „Stand by Me“ singen.

Dem Ensemble von TanzLuzern gebührt höchster Respekt für die Bereitschaft und Offenheit, ihre Stimmen tanzen zu lassen, und für die Arbeit, die dahintersteckt. Das Ergebnis dieses experimentellen Unterfangens ist ein beeindruckend vielstimmiger und vielschichtiger Abend.

 

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