„Choreografische Phantasien über Eleonora Duse“ von John Neumeier. Tanz: Alessandra Ferri

„Choreografische Phantasien über Eleonora Duse“ von John Neumeier. Tanz: Alessandra Ferri

Rückblick auf ein Künstlerleben

John Neumeiers „Choreografische Phantasien über Eleonora Duse“

Eine fast meditative Übung, ein Rückblick auf ein reiches kreatives Schaffen, auf ein Künstlerleben. Vor allem aber ist dieses Stück eine Art Vermächtnis.

Hamburg, 08/12/2015

Um es vorweg zu sagen: Dieses Stück ist nichts, was man mal eben an einem Abend konsumiert, um sich zu unterhalten. Es ist vielmehr eine fast meditative Übung, ein Rückblick auf ein reiches kreatives Schaffen, auf ein Künstlerleben. Es ist ein Stück, das ein Choreograf vermutlich erst zustandebringen kann, wenn er selbst – Neumeier ist Mitte 70 – auf ein solches Leben zurückblicken kann. Und dessen Hauptrolle eine Tänzerin erst dann wirklich auszuloten vermag, wenn sie ein hohes Maß an Erfahrung und Reife erlangt hat. Alessandra Ferri, inzwischen 52 Jahre alt, ist so eine Tänzerin. Vor allem aber ist dieses Stück eine Art Vermächtnis. Denn choreografische Meisterschaft in dieser Tiefe, in dieser Vielschichtigkeit und auch in dieser Ruhe ist eine aussterbende Kunst. John Neumeier ist einer der ganz wenigen noch lebenden Choreografen, der sie beherrscht wie kaum ein zweiter weltweit.

Schon jetzt ist erkennbar: „Duse“ wird polarisieren. Zwischen denen, die gerade diese Kunst schätzen und lieben. Und denjenigen, denen genau das zu wenig zeitgemäß ist. Die etwas anderes erwarten und fordern vom Hamburg Ballett und seinem Chef. Das war schon bei der Uraufführung wahrnehmbar, als sich die Reihen bereits in der Pause etwas lichteten, und als beim Schlussbeifall kräftige Buhs für den Ballettintendanten zu vernehmen waren. Vor allem aber daran, dass eben dieser Schlussbeifall ungewohnt kurz ausfiel.

„Duse“ ist ein sperriges Stück, das sich – ähnlich wie auch Neumeiers „Winterreise“ – nicht auf den ersten Blick erschließt. Man muss es, wie so oft bei Neumeier, mehrfach sehen, um es in seiner ganzen Kraft, seinem Volumen und in seiner Tiefe erfassen zu können. Und man muss es mit weit offenem Herzen sehen, damit es seine Magie entfalten kann. Denn vieles erschließt sich nur durch Nuancen, durch ein Innehalten, eine kleine Geste. Es sind gerade diese sparsam gesetzten Akzente, die Kunst der Reduktion, die hier so eindrücklich wirken. Dass dies deutlich wird, ist nicht zuletzt das Verdienst der ganz und gar einzigartigen Alessandra Ferri, die dem Part der Duse ihre Seele schenkt. Was diese wunderbare Tänzerin zeigt, ist ganz große, hohe Tanzkunst. Und der Beweis dafür, wie dumm und kurzsichtig es ist, wenn das Repertoire einer Kompanie immer nur auf die junge Garde ausgerichtet ist, auf Virtuosität und Dynamik. Was die Ferri hier ihrer Rolle einhaucht, ist das ganze Spektrum eines gelebten Lebens. Ist Liebe und Sehnsucht, Hingabe und Trauer, Zorn und Wehmut, Schenken und Empfangen. Es ist eben auch in ihrer Darstellung die Kunst der Reduktion, diese unendliche Schlichtheit, die so groß ist und so schwierig. Die nur gelingt, wenn man sie wirklich innerlich empfindet. Es ist Demut und Bescheidenheit, es ist Reinheit und Klarheit zugleich. Die Duse wäre begeistert gewesen – genau das war ihr wichtig, das hat sie selbst vorgelebt, das war das Neue, was sie der Kunst zu schenken hatte. Und das ist auch der Kern dieser neuen, großartigen Neumeier-Kreation, deren Reichtum vermutlich erst viel später wirklich verstanden werden wird.

Natürlich ist es sinnvoll, wenn man ein bisschen etwas weiß über diese große italienische Schauspielerin, die von 1858 bis 1924 ihr Publikum mit ihrer Kunst in Bann schlug. Zwingend notwendig ist es nicht. Man kann sich das Stück auch einfach so anschauen und sich unvoreingenommen einlassen auf das, was einem da in diesen 10 Episoden aus dem Leben der Duse entgegenkommt. Es beginnt mit einer Kinovorstellung des Films „Cenere“, in dem die Duse selbst mitspielt, gefolgt von den großen Rollen, denen die Duse ihren eigenen Stempel aufdrückte: Julia, Cleopatra, Marguerite in „Die Kameliendame“; später auch noch Mirandolina, La Gioconda und Die Frau vom Meer. Es sind Episoden der großen Begegnungen ihres Lebens: mit der Schauspielerin Sarah Bernhardt, zuerst Vorbild, später Rivalin (grandios: Silvia Azzoni), mit der Tänzerin Isadora Duncan (Anna Laudere), zu der sie eine enge Freundschaft pflegt und der sie über die Trauer über den tragischen Tod der beiden Töchter hinweg hilft; mit Désirée von Wertheimstein, die ihr zur dienenden Begleiterin wird (wunderbar in sich ruhend: Hélène Bouchet). Und es sind Skizzen einer Liebe zu drei Männern: zu Luciano Nicastro, dem Soldaten (überragend: Sascha Trusch); zu Arrigo Boito, dem Schriftsteller (wunderbar zurückgenommen: Carsten Jung); und zu Gabriele d’Annunzio, dem Dichter (leidenschaftlich und sehr präsent: Karen Azatyan). Das Publikum der Duse lässt Neumeier über eine vierte Männerfigur verkörpern (liebevoll zugewandt: Marc Jubete). Alessandra Ferri webt das alles zu einem feinen Gespinst eines Frauenlebens zusammen. Phänomenal immer noch ihre Beweglichkeit und Technik, ganz besonders aber ihre unglaubliche Bühnenpräsenz und Wandelbarkeit. Schon allein um sie zu erleben, lohnt es sich, dieses Stück anzuschauen.

Der erste Teil, zu dem Neumeier fast ausschließlich Musik von Benjamin Britten arrangiert hat (einfühlsam gespielt von den Hamburger Philharmonikern unter Simon Hewett), endet mit dem Tod der Duse und wiederum im Kino, wenn die Dokumentaraufnahmen den Rücktransport ihres Sarges aus den USA nach Italien zeigen. Das Stück hätte damit zu Ende sein können. Aber Neumeier wäre nicht Neumeier, wenn er dem nicht noch eine weitere Dimension hätte hinzufügen wollen, die sich mit Teil 1 durchaus zu einer Einheit verbindet: das 1986 für das Stuttgarter Ballett geschaffene „Fratres“ zu Musik von Arvo Pärt. Eleonora Duse ist hier mit ihren drei Männern und dem Publikum „in einer anderen Welt“. Aller Weltlichkeit entkleidet kondensieren sie in fast zeitlupenartig verlangsamten Bewegungen, was es an Wesentlichem in zwischenmenschlichen Begegnungen gibt. Und so rundet erst dieses fast 30 Jahre alte Werk das neu erschaffene zu einem Ganzen.

Was auch das wieder einmal mit großer Meisterschaft inszenierte Programmheft spiegelt, mit dem sich Holger Badekow nach insgesamt 130 gestalteten Programmheften, 70 Plakaten, 30 Jahrbüchern und 28 Kalendern für das Hamburg Ballett in den Unruhestand verabschiedet. 58 Kreationen John Neumeiers hat er in ihrem Entstehungsprozess fotografiert und begleitet – dieses ist die letzte in seiner 40-jährigen Laufbahn als Fotograf des Hamburg Ballett. Er wird fehlen.

Weitere Vorstellungen mit Alessandra Ferri am 6., 9., 11. und 12. Dezember sowie am 9., 15. und 16. Januar. In den Vorstellungen am 28. und 31. Januar tanzt die zweite Besetzung mit Silvia Azzoni in der Hauptrolle.
 

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