Glühendes Ringen zweier Seelen

John Neumeiers „Purgatorio“ bei den Hamburger Balletttagen

Hamburg, 30/06/2012

John Neumeiers choreografische Bearbeitung der unvollendeten Zehnten Sinfonie Gustav Mahlers, die bei den letztjährigen Balletttagen uraufgeführt wurde, nimmt eine besondere Stellung unter seinen sinfonischen Mahler-Balletten ein: Nicht nur, dass ihr ein narrativer Teil zu Liedern von Mahlers Gattin vorangestellt ist, sondern Komponist und Ehefrau treten auch als Protagonisten des Balletts auf. Zu diesem biografischen Ansatz inspirierte Neumeier die Entstehungsgeschichte der Sinfonie: Während der Arbeit an ihr im Jahr 1910 erfuhr Mahler durch einen anonymen Brief von der Affäre seiner Gattin Alma mit dem Architekten Walter Gropius im Kurort Tobelbad. Seine Erschütterung schlug sich sowohl in der Musik der Sinfonie nieder, deren dritten Satz er „Purgatorio“ (Fegefeuer) nannte, als auch in einigen von Weltschmerz und Selbsthass zeugenden Kommentaren in der Partitur.

Der erste, kürzere Teil des Balletts ist Alma Mahler gewidmet, deren Lieder die Sopranistin Charlotte Margiono gefühlvoll interpretiert. Neumeier versteht diese Sequenz als Hommage an die begabte junge Komponistin, der ihr Gatte vor der Eheschließung das Komponieren verbot. Die einfache aber völlig ausreichende Ausstattung stammt vom Choreografen selbst: Die wichtigsten Requisiten sind ein grasbewachsener Keil und ein schwebendes transparentes Haus − Mahlers „Komponierhäuschen“ in Toblach. In einer Choreografie, die mit erstaunlicher Klarheit alle Stimmungswechsel in der Musik reflektiert, wird hier Almas Gefühls- und Beziehungswelt beschrieben. Ein kurzer Pas de deux zu Beginn charakterisiert Almas Beziehung zu ihrem Gatten unmittelbar vor ihrer Affäre: die Atmosphäre ist schwer und traurig, Mahler zieht Alma hinter sich her und widmet sich so intensiv seinen Notenskizzen, dass er ihre zärtlichen Annäherungen kaum zu bemerken scheint. Doch während Lloyd Riggins, Neumeiers Starbesetzung für gepeinigte Künstlerrollen, erst ganz am Ende aus seiner depressiven und selbstzerstörerischen Stimmung findet, strahlt Almas Gesicht bereits wenig später beinahe ungläubig bei der Begegnung mit dem attraktiven Gropius (Thiago Bordin). Dieser dynamische Jüngling, der in Badehose und Faun-Pose den weiblichen Kurgästen den Kopf verdreht, ist ein zu faszinierender Gegensatz zu ihrem viel älteren, intellektuellen Gatten, als dass sich Alma nicht mit lustvoll kreisenden Füßen von ihm von dem Boden heben ließe, an dem sie zu Beginn noch mit deprimierter Erdenschwere klebt. Eine Vision des Ehemannes, der mit ihr und Gropius einen Pas de trois tanzt, ohne allerdings wirklich um sie zu kämpfen, kann sie nur vorübergehend zurückhalten: So lässt Alma sich gegen Ende des ersten Teils mit gelöstem Haar, barfuß und in einem fließenden weißen Kleid bedingungslos von der Höhe ihres Wiesenpodestes in seine Arme fallen wie eine von beengender Bekleidung, strenger Frisur und Spitzenschuhen befreite Isodora Duncan.

Der zweite Teil des Balletts zu Deryck Cookes Konzertfassung des Entwurfes der Zehnten Sinfonie handelt von Mahlers künstlerischen und emotionalen Problemen, nachdem er von der Untreue seiner Gattin erfahren hat. Er ist sehr viel assoziativer als der erste Teil, da er keine äußere Handlung erzählt, sondern innere Welten veranschaulicht. Der Ausweitung der Alma („Seelen”)-Welt im ersten Teil wird hier die Verengung der Mahler-Welt gegenübergestellt. Im engen Komponierhäuschen gefangen, ist Mahler meist allein mit seinem Schöpfergeist (Alexandre Riabko), seinen Visionen der Ehefrau mit Gropius und den Bildern, die aus seinen Kompositionen entspringen (das Corps de Ballet und die Solisten Anna Laudere und Edvin Revazov). Beim Kuss von Alma und Gropius fallen alle anderen Bilder zusammen, die Musik klingt wie ein Aufschrei der Seele des Komponisten. Wie schon in „Tod in Venedig” und „Die Kleine Meerjungfrau” sieht man hier einen Künstler, dessen Kreationen sich selbstständig machen und mit denen er kommuniziert, ohne immer einen Einfluss auf sie zu haben. So stolpert Mahler beinahe über seine Konzepte oder zwängt sich mühevoll zwischen ihnen durch, wird von seinen Doppelgängern getragen und betrachtet wie ein Außenstehender die Bilder, die aus seiner zeitweise triumphalen Musik entstehen, während er hilflos und tieftraurig bleibt.

Auf das Fegefeuer muss allerdings auch für Mahler irgendwann die Erlösung folgen: Nach einer gleißend hellen, Freudschen Mutter-Vision kehrt Alma tatsächlich als weiß gekleidete Lichtgestalt zurück. In einem sehr zärtlichen, poetischen Pas de deux erkennen die beiden ihre gemeinsame Schuld und ihre Zusammengehörigkeit. Die Distanziertheit des ersten Pas de deux, in denen sich das Paar kaum berührt, wird hier völlig aufgehoben: Arme und Körper verschlingen sich innig ineinander, so dass die beiden schließlich zu einer Einheit verschmelzen. Mahler legt mehrmals den Kopf in ihren Schoß − um zum Schluss nicht mehr aufzustehen, woraufhin Alma verloren in die Ferne blickt. Hélène Bouchet ist exzellent in dieser Rolle, in der sie selbst in den leidenschaftlichsten Momenten stets lyrisch und zerbrechlich wirkt und das Ringen ihrer Seele zwischen Liebe und Freiheitswillen in ihrem fein geschnittenen Gesicht und den grazilen Gliedern spiegelt.

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