London trifft Hamburg in einer einzigartigen "Kameliendame"

Alina Cojocaru als Marguerite Gautier in Hamburg

Hamburg, 25/06/2012

Die Kunst, durch Schritte zu erzählen, beherrscht heute kaum jemand so wie John Neumeier. „Die Kameliendame“ nach Alexandre Dumas fils stellt dabei die Apotheose eines Stils des Choreografen dar, der die Vorlage völlig den Gesetzen des Tanzes entsprechend und mit höchster Verständlichkeit bearbeitet. Das Stück und seine differenzierten, subtil durch Schritte charakterisierten Solorollen erlauben viele Interpretationen, doch kommt es auf eines besonders an: die Auflösung der Technik in der Geschichte, so dass in jedem Schritt der vom Choreografen in ihn gelegte Sinn zum Vorschein kommt.

Es gibt Vorstellungen, an denen ein bis in alle Einzelheiten vertrautes Ballett spannend und überraschend wirkt, als sähe man es zum ersten Mal. Die „Kameliendame“-Vorstellung der Hamburger Balletttage war ein solcher Abend. Wie kam es dazu? Alina Cojocaru, Erste Solistin des englischen Royal Ballet, war eingeladen worden, an der Seite des Hamburger Armand Alexandre Riabko die Rolle der Marguerite Gautier zu tanzen. Cojocaru, bereits vor über zehn Jahren eine hinreißende Tatjana in der Londoner Erstaufführung von Crankos „Onegin“, hat sich seither als tragische Heldin noch erstaunlich weiterentwickelt und liefert eine sensationelle Interpretation der durch die Liebe erlösten Kurtisane. Wie die echte Marguerite Gautier, Marie Duplessis, hat ihr Gesicht etwas Unschuldiges, Mädchenhaftes, das ganz und gar nicht zu ihrem Beruf passen will. Berechnung und Zynik sind ihr vollkommen fremd, und selbst den wohlmeinenden, aber unerträglichen Grafen N. (Konstantin Tselikov) verweist sie nur mit solch unerbittlicher Klarheit, da er ihr wirklich keinen Moment Ruhe lässt. Ansonsten lebt sie die Geschichte mit einer Spontaneität und Natürlichkeit, als sei die Rolle für sie geschaffen; sie bewegt sich mit großer Freiheit über die Bühne, setzt eigene Akzente und erfindet gar manchmal eine Geste (beispielsweise, wenn sie am Ende des zweiten Aktes den Arm sehnsüchtig nach Armand ausstreckt, bevor sie in ihr altes Leben zurückkehrt).

Überhaupt übersteigt ihre Leidenschaft für Armand jedes selbst im Theater übliche Maß, ohne, dass sie dabei jemals exaltiert oder künstlich wirkte. Bereits bei ihrer ersten Begegnung zeigt sie Armand ihr Wohlwollen (nachdem sie sich wie ein Kind über ihren kleinen Streich mit dem Stuhl gefreut hat, bei dem Armand unsanft auf dem Boden landete), nur um dann im ersten Pas de deux einen ungewöhnlich heftigen Kampf mit ihm und sich selbst auszutragen. Immer wieder schüttelt sie den Kopf, entfernt sich, als sei ihr bewusst, dass das Ganze schlecht enden muss. Dann wieder überlegt sie lange, öffnet sehnsüchtig die wunderbar expressiven Arme und entscheidet sich schließlich ganz für den Geliebten. Im zweiten Akt scheint sie einen Moment lang wirklich zu sich selbst zu finden: Nachdem sie die Kette fortgeworfen hat, die sie an den Herzog (Dario Franconi) und an das Kurtisanenleben schmiedete, springt sie mit einem Elan in Armands Arme, der für einen weniger erfahrenen Partner wie Riabko leicht gefährlich werden könnte. In einem fließenden weißen Kleid und mit offenem Haar auf Armands Schultern schwebend, gleicht sie vollkommen dem Engel, der sich schon die ganze Zeit hinter der dünnen gesellschaftlichen Fassade zu verbergen schien. Doch gleich darauf wird ihr flüchtiges Glück von Carsten Jungs strengem Monsieur Duval zerstört, dem nach dieser Auseinandersetzung mit der zarten, aber mit aller Vehemenz kämpfenden Marguerite bewusst sein muss, ein Leben vernichtet zu haben. In ihrer letzten kurzen Begegnung mit Armand vor dem Bruch scheint sie ihn geradezu aufsaugen zu wollen, drückt ihn immer wieder mit verzweifelter Leidenschaft an sich, um dann nach seinem Weggang wie eine leere Hülle zusammenzusinken.

Auch Alexandre Riabko als Armand ist von höchster Leidenschaft getrieben: kein Argument überzeugt ihn im ersten Pas de deux, der hier tatsächlich wie ein Dialog wirkt und an das sehr realistische Gespräch in Dumas’ Roman erinnert, und seine Verzweiflung über Marguerites scheinbaren Verrat entlädt sich in einem furiosen Solo mit gewaltigen Sprüngen. Sein kurzes Duo mit Florencia Chinellatos Olympia ist verletzend provokant und endet in einer kurzen ironischen Verbeugung zu Marguerite, bevor er mit seiner oberflächlichen Eroberung davoneilt. Die letzte Vereinigung des Paares im schwarzen Pas de deux mit seinen waghalsigen Hebungen und Fällen, die Riabko stets sicher auffängt, ist wie ein letztes intensives Auflodern von Marguerites Lebensflamme. Danach verglüht sie auf wunderbar poetische Weise: Ihre tödliche Verwundung durch Armands Beleidigung beim Ball ist ebenso berührend wie ihre Suche nach Armand im Theater unter den mitleidigen Augen von Prudence und Gaston (Leslie Heylmann und Silvano Ballone) und ihre Visionen von Manon und Des Grieux (Silvia Azzoni und Ivan Urban), mit denen sie zu verschmelzen hofft, nur um am Ende allein zu sterben - wenn auch sicher mit einem Bild Armands im Herzen, wie das zarte Lächeln auf ihren Lippen andeutet.

Bei einer solchen Interpretation wirkt dieses ewig junge Ballett aus dem Jahr 1978 lebendiger denn je, und das nicht nur durch die minimalen Veränderungen, die Neumeier vornimmt - so ist beispielsweise Graf N. hier merklich aufdringlicher und töpelhafter als zum Beispiel in Stuttgart oder Paris und trägt Brille; Manon wird wie in Paris in der Vision nach dem schwarzen Pas de deux halb entkleidet, um die Parallele zu Marguerite im Unterkleid zu betonen. Auch die Kompanie tanzt mit großer Spontaneität und Freiheit in Mimik und Gestik, so dass das Stück ganz und gar nichts Museales an sich hat. Auch auf Jürgen Roses geschmackvoller Ausstattung liegt noch kein einziges Staubkorn. So kann man dem Ballett, das nach wie vor eines der größten dramaturgischen Meisterwerke des Repertoires ist - nicht zuletzt durch seine geniale Musikzusammenstellung aus Chopins Gesamtwerk, die sich wie magisch mit der Choreografie verwebt - bedenkenlos eine Lebensdauer von zahlreichen weiteren Jahrzehnten bescheinigen.

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