Die Krankheit zum Tode

Alina Cojocaru und Roberto Bolle gastieren in der „Kameliendame“

Hamburg, 06/10/2011

Je mehr er im Laufe seines Lebens gesehen hat, desto eher neigt der Ballettliebhaber zum Fatalismus. Nie wieder wird jemand das wie Rudi tanzen, nie wieder wird es einen Danseur Noble wie Erik Bruhn geben, nie wieder eine Kameliendame wie Marcia. Dabei kommt immer wieder jemand, der es anders macht und doch genauso faszinierend, nur dauert es oft ein paar Jahrzehnte. Beim Hamburger Ballett debütierte jetzt Alina Cojocaru als Marguerite Gautier in John Neumeiers berühmtestem Handlungsballett und bestätigt, sollte noch jemand Zweifel daran gehabt haben, ihren Ruf als die große dramatische Ballerina unserer Zeit. Eigentlich gehört sie gar nicht in dieses Fach, ist die Rumänin vom Royal Ballet doch ein zartes, schmales Wesen mit einem lieben, fast unscheinbaren Gesicht, eher die mädchenhafte Giselle als das dämonische Zwitterwesen in "Schwanensee" oder gar eine mondäne Kurtisane. Aber wie sie sich diese tragische Rolle zu eigen macht, mit einer ganz persönlichen, tiefen und ergreifenden Interpretation, das reiht ihren Namen unter denjenigen ein, an denen man in zwanzig oder dreißig Jahren die jungen Tänzer messen wird.

In den wenigen Minuten ihres ersten Auftritts lässt Cojocaru vor unseren Augen das Porträt einer Sterbenden entstehen, detaillierter und vielschichtiger als es manche Interpretinnen der Rolle an einem ganzen Abend nicht schaffen. Weltgewandt, raffiniert und abgeklärt beherrscht ihre Marguerite das gesellschaftliche Spiel mit perfekter Eleganz. Und doch ist die Fassade bereits am Zerbrechen, zu nervös zittert ihr Fächer, zu müde sinkt sie auf ihren Theaterstuhl, immer wieder bricht der der Zweifel hinter dem Rollenspiel durch, steht die Angst in ihrem Blick, wenn keiner hinschaut. Viel zu nahe auch geht ihr das Schicksal Manon Lescauts, das als Spiel im Spiel gezeigt wird, stärker als die meisten Interpretinnen leidet Cojocaru während des gesamten Stücks mit ihrem theatralischen Gegenbild - die fiktionale Kurtisane ist der erste Spiegel, in dem sie sich selbst erkennt, noch vor dem großen Spiegel in ihrer Wohnung. Denn um Selbsterkenntnis geht es in diesem Porträt, ihre Marguerite ist eine Gebrochene, sie steht bereits zu Beginn des Abends vor dem Ende. Die Hustenanfälle erschüttern sie bis ins Mark (man erinnere sich an das zarte Hüsteln, das manche Ballerinen hier abgeben), die Schwindsucht hat als Krankheit zum Tode längst auf Geist und Gemüt übergegriffen.

In dieser Situation wirft sich ihr der junge Armand zu Füßen, und diese Begegnung, den ersten der drei zentralen Pas de deux, zeigt Cojocaru nun als Weg zurück ins Leben: zögernd und fast widerwillig zunächst, mit einem staunenden Lächeln am Schluss, das dann mit jedem der drei Bälle glücklicher und strahlender wird. Sie ist eine großartige Erzählerin, in der nuancenreichen Entwicklung ihrer Figur dem dramaturgischen Genie John Neumeiers durchaus ebenbürtig. Obwohl sie völlig anders aussieht und ganz anders tanzt, erinnert vieles an Marcia Haydée: die beredten Hände und Arme, das ausdrucksvolle Gesicht, das jede kleinste innere Regung widerspiegelt, ganz besonders aber das Schweben: genau wie Haydée lässt sich Cojocaru nicht einfach hochheben und verharrt in einer Pose, sondern sie tanzt noch in den Hebungen, streckt sich sehnend, wehrt sich, lässt sich furchtlos fallen.

Alina Cojocaru kann gar nicht abstrakt tanzen, bei ihr ist jede Bewegung beseelt, bedeutungsvoll, notwendig. Nie geht es um die Schönheit der Linien (die bekommt man sozusagen als Dreingabe), nie sieht man bei ihr Arabesquen, Bourrées oder einen Port de bras, nur elementare Regungen: Not, Trauer, Sehnen, Glück. Neben einer so unmittelbaren Darstellung verblassen alle anderen auf der Bühne zu Balletttänzern, selbst der nun wirklich erfahrene Neumeier-Tänzer Alexandre Riabko wirkt bei all seiner Intensität neben ihr wie ein linientreuer Ästhet, stets etwas entrückt.

So vieles macht Cojocaru ein klein wenig anders und dadurch viel klarer: Wenn Marguerite im zweiten Akt auf dem Lande Armand zurückhält, als der Herzog ihn hinausschicken will, dann schließt sie nach ihrer spontanen Geste die Augen und fasst noch einmal ruhig und erfüllt diesen großen Entschluss; das Hinwerfen des Schmucks wird dann fast zur nebensächlichen Geste. Irgendwie schafft sie es, durch ein kurzes Zögern oder eine neue Phrasierung der Bewegungen diese entscheidenden Momente in Marguerites Drama noch klarer herauszustellen: wenn sie Armand im zweiten Pas de deux ihr ganzes Leben zu Füßen legt, wenn sie Abschied vom nichts ahnenden Geliebten nimmt, die letzte Berührung, der letzte Kuss. Die Hoffnung auf ihrem Gesicht, wenn sie noch einmal ins Theater eilt, wo sie ihn vermutet, und die Liebe, mit der sie ihrer Kammerfrau das Tagebuch für Armand überreicht. Wo beim Auftritt zum letzten Pas de deux die meisten Interpretinnen der Rolle mit gesenktem Blick in ihrem schwarzen Pelzmantel verharren (so auch Hélène Bouchet, die mit Roberto Bolle die Wiederaufnahme tanzte), da glühen Cojocarus Augen unter dem schwarzen Schleier, als erwarte sie die Entscheidung zwischen Leben und Tod. Sie legt Armand nicht die Stirn in die dargebotene Hand, sondern küsst seine Handfläche wie eine Ertrinkende. Selbst Marguerites Tod ist bei ihr anders, sie streckt nicht sehnend die Hände aus, sondern empfängt den imaginären Geliebten in einer Umarmung – sie stirbt lächelnd und gibt so Marguerites Geschichte einen traurig-schönen Schluss: die Verlorene hat zu sich selbst gefunden. Ob so viel selbstständige Interpretation John Neumeier gefällt oder nicht: mit Alina Cojocaru dürfte er endlich wieder eine weibliche Muse von Haydées Format gefunden haben.

Nach diesem subtilen Kammerspiel der Baudelaireschen Verlorenheit wirkt Roberto Bolle wie ein Hollywood-Held mit Breitwandlächeln. Der andere Weltstar, den die Hamburger Kompanie für die Wiederaufnahme des Werkes eingeladen hat, besticht durch sehr schöne Hebungen und sein gutes Aussehen - das ist aber auch schon alles, was von seiner zwar romantischen, aber recht vordergründigen Interpretation neben der melancholisch-kühlen Hélène Bouchet in Erinnerung bleibt. Selbst wenn am Schluss echte Tränen fließen: ein dramatischer Tänzer ist der Italiener nicht, weiß nichts vom extremen Ausloten der Bewegungen, von extremen Gefühlen, vom dramaturgischen Aufbau eines Charakters. Er agiert aus dem Moment heraus, seine Mimik ist nur selten natürlich, er muss sie koordinieren wie die Schritte der Rolle. Ganz sicher hat ihn die Arbeit mit John Neumeier persönlich sehr viel weitergebracht; ob er zu Neumeiers Schaffen mehr beitragen kann als seinen bekannten Namen, darf bezweifelt werden. Das machen sowohl in Hamburg wie auch in Stuttgart einige Armands besser, sehr viel besser.

www.hamburgballett.de

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