„Das Fräulein von S.“ von Christian Spuck. Tanz: Marcia Haydée

„Das Fräulein von S.“ von Christian Spuck. Tanz: Marcia Haydée

„Das Fräulein von S.“

oder Die Wiederentdeckung einer unbekannten Trouvaille aus der großen Zeit der Ballets Russes!

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Stuttgart, 10/02/2012

Hätte Diaghilew hundert Jahre später gelebt, er wäre unser Zeitgenosse! Und er hätte im Anschluss an „Les Femmes de bonne humeur“ und „Pulcinella“ sehr wohl dieses Ballett „Das Fräulein von S.“ nach alten Quellen in Auftrag geben können. Bei einem heutigen Komponisten, sagen wir Hans Werner Henze, den er in die Bibliotheken geschickt hätte, um sich vom großen Lully inspirieren zu lassen. Mit der Choreografie und Inszenierung hätte er dann den Massine-Nachfolger Christian Spuck beauftragt und mit der Ausstattung als Picasso- und Gontscharowa-Nachfolgerin Emma Ryott. Und so haben wir diese Trouvaille eines verloren geglaubten, blitzblank aufgefrischten, totschicken Balletts wiederentdeckt – nicht aus der Glanzzeit der legendären Ballets Russes, sondern aus dem sehr heutigen Repertoire des Stuttgarter Balletts.

Zugrunde liegt ihm eine Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten nach den Gesprächen der Serapionsbrüder von E.T.A. Hoffmann, der schon so manche andere Ballette inspiriert hat, „Coppélia“ beispielsweise, den „Nußknacker“ und den „Sandmann“ (alias „Hoffmanns-Erzählungen“). Hier nun also die Story um den berühmt-berüchtigten Pariser Goldschmied Cardillac (die auch Hindemith als Oper vertont hat), dem „verruchtesten und zugleich unglücklichsten aller Menschen“, der die Käufer seiner kunstvollen Geschmeide ermordet, um sie wieder in seinen Besitz zu bringen. Sein Gehilfe, der Geliebte seiner Tochter, wird schon zum Tode verurteilt, als das Fräulein von Scudéry, eine achtzigjährige alte arglose Schriftstellerin, den Kriminalfall aufklärt und beim König seinen Freispruch erwirkt.

Mit seinem Dramaturgen Michael Küster zusammen hat Spuck der kriminalistisch verzwickten Geschichte einen modernen Dreh gegeben und sie in lauter Episoden aufgelöst, die er als Alter Ego der von Marcia Haydée dargestellten Madeleine de Scudéry von der Schauspielerin Mireille Mossé rezitieren lässt, einer gnomhaften Zwergin aus dem Hoffmannschen Geschlecht der Klein-Zaches, die die Tochter von Edith Piaf und Michel Petrucciani sein könnte. Mit kalligraphisch projizierten Originaltexten („ein Liebender, der die Diebe fürchtet, ist der Liebe nicht würdig“) und funkelnden Diamantencolliers spult Spuck die Story, ein Comic aus Illustrationen eines fiktiven Traité der Fechtkunst und den Kampftechniken des 17. Jahrhunderts, ab, basierend auf den Exercises der höfischen Courtoisie, elegant in schwarz wie silhouettenhaften Schnittmusterbögen und doch so modern, als stammten sie aus den Ateliers von Lagerfeld oder Armani. Dabei appliziert mit allen Tricks und Virtuositätsstunts der Danse d´école, formvollendet in ihren Strukturen, ob nun als Soli, in kleineren Ensembles oder als große Gruppenformationen, die den Tänzern eine auf Hochglanz polierte Technik abverlangt.

Die Stuttgarter in großer Besetzung angetreten, angefangen von Arman Zazyan und Daniela Lanzetti als Ludwig XIV. und Marquise de Maintenon, Marcia Haydée als Scudéri mit ellenlanger, gravitätischer zelebrierter Schleppe, dem Liebespaar von Katja Wünsche und William Moore, den vier Juwelen aus dem Edelstein-Kabinett eines Fabergé alias Alicia Amatriain, Anna Osadcenko, Myriam Simon und Angelina Zuccarini nebst all den anderen Beteiligten aus dem Hofstaat des Sonnenkönigs tanzen das wie Figuranten aus der herzoglichen Manufaktur von Ludwigsburg. Und wenn Marijn Rademaker als Cardillac, alles andere als der „grotesk hässliche Körper“ des literarischen Vorbild ist, nämlich ein Kunstschmied, der seinen Body mindestens so in Schuss hat wie ein Monsieur Beautiful, so nehmen wir das als sprichwörtliches Schönheitspflästerchen eines perfekt getrimmten Corps – genau wie das musikalisch etwas bunt geratene Potpourri der Kompositionen von Robert Schumann, Philip Glass, Michael Torke und Martin Donner, deren sich das Staatsorchester unter der Leitung von James Tuggle mit tänzerischem Elan annimmt.

Und so gesellt sich „Das Fräulein von S.“ als ein weiteres Bijou zur Boutique des Stuttgarter Ballettrepertoires – vierzig Jahre nach dem Tod seines Gründervaters John Cranko, würdig der Nachfolge seiner „Romeo“-„Onegin“- und „Widerspenstigen“-Trilogie nebst „Orpheus“, „Kameliendame“. „Endstation Sehnsucht“ samt „Lulu“, „Leonce und Lena“ sowie „Orlando“ – nun also „Das Fräulein von S.“ Tu felix Stuttgardia salta!

 

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