Zeitmikroskop

Uraufführung der Chor(e)ografie „Short cuts/Short cats“ – von VA Wölfl und Neuer Tanz in Düsseldorf

Düsseldorf, 23/11/2011

Wie Pretiosen in der Auslage eines Juweliers präsentiert VA Wölfl in seinem neuen Stück „Short cuts/Short cats“ vierundzwanzig Gewehre auf Drehscheiben. Langsam drehen sich die Scheiben mit den Todbringern, während sich der Zuschauerraum noch füllt. Die Drehscheiben sind unauffällig in den Tanzboden des Marstalls von Schloss Benrath in Düsseldorf eingelassen, dem Domizil von VA Wölfl und dem Ensemble Neuer Tanz. Der Raum ist kahl und weiß, Neonröhren gleißen von der Decke, ein dunkler Boden. Dann betreten zügigen Schritts neun Tänzerinnen und Tänzer die Bühne, packen sich ein Gewehr und zielen auf der Drehscheibe stehend in die Höhe. Das angelegte Gewehr steht in krassem Kontrast zu ihren eleganten Anzügen und Kleidern.

Die Eingangsszene wird minutenlang überdehnt, kein Ton, keine Musik überlagert das Bild der langsam drehenden, in alle Richtungen zielenden Schützen. Dann frappiert ein Darsteller das Publikum mit einem Zauberkunststück, das er als „mathematisches Phänomen“ ankündigt: er verwandelt zwei papierne Ringe in einen quadratischen Rahmen. Die Quadratur des Kreises, so scheint’s. Doch wer meint, dass VA Wölfl damit den Schlüssel zum Verständnis seiner Inszenierung liefert, liegt falsch. Als würde Wölfl, der manische Perfektionist, der immer präzis vage Bleibende, der Falsche-Fährten-Leger es uns so einfach machen: Passt auf, der bloße Schein verdeckt die wahre Wirklichkeit.

Schon das Programm zu „Short cuts …“ sorgt für Verwirrung. Gleich drei Versionen gibt es davon, in jeder werden die Szenen oder „Sätze“ (wie Wölfl sie nennt) anders benannt: Das Ziel. Jesus küsst nicht. Luft. Drei verschiedene Szenentitel für die gleiche Szene. Das Spiel um die richtige Wahrnehmung beginnt also schon vor dem Spiel auf der Bühne.

Wie in vielen Stücken von Neuer Tanz geht es auch in „Short cuts …“ wieder um die Sensibilisierung der Wahrnehmung in einer nicht konkretisierten Wirklichkeit. Keine Bedrohungssituation wird beschrieben, keine Namen oder Orte genannt. Allenfalls die kurze Projektion des Sternenbanners gibt eine Richtung vor. Wölfls Thema ist die Gewalt in allen Schattierungen, persönliche, gesellschaftliche oder politische Gewalt. Daran arbeitet er sich bereits seit Jahren ab, gibt sich damit als globaler Pazifist zu erkennen. In „Revolver“ (2004) erdrücken zwei aufblasbare Panzer alles was ihnen unter die Ketten kommt. Für dieses Stück wurde VA Wölfl 2006 mit dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet. In „12/… im linken Rückspiegel auf dem Parkplatz von Woolworth“ (2006) krachen Bomben und dröhnen Hubschrauber. In „Das Lamm auf dem Berg Zion. Offb. 14,1“ (2008) werden klassische Posen mit Pistolen in der Hand ausgeführt.

In „Short cuts …“ sind es die Gewehre. Sie werden gegen E-Gitarren getauscht, mit denen die Truppe zu einer eigenwilligen Interpretation von Arnold Schönbergs „Erwartung“ ansetzt. Kein Zufall, dass Schönbergs Erwartung nicht ansatzweise erkennbar ist, denn welche Erwartung sollte sie in diesem Kontext vermitteln? So wechselt das sanfte Zupfen der Saiten doch noch zu infernalischem Brüllen und Dröhnen, wenn die Gitarren brutal über die Verstärker geschoben oder mit einer Peitsche malträtiert werden. Die Frau am Keyboard singt in hohen Tönen, bis sich die Stimme überschlägt, die Musik wird zum Geräusch, zur Kakophonie; mitten drin eine Männerstimme mit „Dämmerung“. Kurz flattert ein Sternenbanner durch die Szene, alle setzen sich symbolträchtig einen Cowboyhut auf.

Dann folgen vierzig Minuten Dämmerung auf der Bühne. Wie in der Stunde vor einer Sonnenfinsternis wird alles zurückgeschraubt: Alle Töne verstummen, die Bewegungen verlangsamen sich, die Körper verlieren ihre präzisen Konturen. Die Tänzer bewegen sich und tanzen nur noch in Slow-Motion. Die Körper setzen zum Schritt an, fallen langsam zusammen oder überdehnen sich endlos lang nach hinten, gestreckte Arme werden zu Gewehren, Hände zu Pistolen geformt, zwei Tänzer treten zum Duell an, die anderen bleiben unberührt davon. Alles in absoluter Stille. Nur ein einziges Geräusch stört und irritiert, weil man es erst nach längerer Zeit zuordnen kann: Es ist ein langsames Schleifen, das die Tänzer verursachen, wenn sie ihre Position wechseln und die Füße dabei über den Boden ziehen. Was wie statisch wirkt in diesem 40-Minuten-Satz, entfaltet seine Intensität in der kleinen Bewegung. „Zeitmikroskop“ nennt VA Wölfl im Programm diesen „Satz“, der die Wahrnehmung der Betrachter mehr herausfordert als jeder offene Schlagabtausch.

Was „Short cuts …“ und Wölfls andere Stücke durchgängig so beklemmend, so zwingend macht, ist die emotionale Distanz seiner Akteure zu ihrer Rolle. Völlig emotionslos, mit leeren Blicken, ohne jegliche innere Regung heben sie das Gewehr und legen an. Das sind verstörende Bilder, denen Wölfl zum Schluss doch noch ein versöhnliches Ende entgegenstellt. Der fünfte „Satz“ ist als einziger in allen Programmen gleich und heißt: Amish. Es ist die Volksgruppe, die der Bergpredigt entsprechend jegliche Gewalt ablehnt.

2.-4.12., Theater Mousonturm in Frankfurt/Main

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