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„Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier bei den Hamburger Ballett-Tagen

Hamburg, 03/07/2011

„Ein Sommernachtstraum“: Shakespeares Betrachtung über die Irren und Wirren der Liebe übersetzt John Neumeier bruchlos in die Sprache des Tanzes, zieht klare Handlungslinien, charakterisiert die Personen und verdichtet immer wieder das Geschehen zu kennzeichnenden Stimmungen. Ob der Streit zwischen dem Elfenkönigspaar Titania und Oberon, ob die Verwechslungen durch Oberons Diener Puck, der mit einer roten Zauberblume Liebe verteilt und zuerst die falschen Paare zusammenführt, dann im witzigen Slapstickverfahren die Vereinigung der Richtigen schafft: Das wirkt frisch wie vor 34 Jahren, als das Stück herauskam in den ersten Jahren von Neumeiers Hamburger Tätigkeit.

Die drei Sphären Hohe Gesellschaft der Menschen, Oberons Elfen- und Feenvolk und die Handwerker trennt Neumeier zum einen durch den genialen Einfall, bekannte Stücke von Mendelssohn (Menschen) mit scharf kontrastierenden Kompositionen von György Ligeti (Oberons Reich) und mechanischer Drehorgelmusik (Handwerker) voneinander abzusetzen. Zum anderen scheiden die unterschiedlichen Kostüme und Bühnenbilder (mit einfachsten Mitteln: Jürgen Rose) die Tag- und Traumwelten voneinander. Im Umkreis Oberons und Titanias wuseln etwa einheitlich gekleidete Gestalten ohne Individualität. Ligetis Klänge bewirken den Einbruch latent lauernden Schreckens in die schöne Welt. Die dunkle Seite Oberons wird sichtbar – und damit tiefere Schichten des Dramas.

Neumeier verbindet die Szenen durch die Doppelung der Rollen: Hippolytas und Titania etwa werden von Hélène Bouchet verkörpert, Philostrat und Puck von Alexandre Riabko, Herzog Theseus und Oberon von Ivan Urban. Die Gruppenszenen werden vom Ensemble mit hingebungsvoller Verve getanzt, leichte Unsicherheiten zu Beginn deuten auf Nervosität hin.

Bei den Balletttagen 2011 vertraut John Neumeier einem erfahrenen Team den technisch und choreografisch sehr anspruchsvollen „Sommernachtstraum“ an, in dem er, streng dramaturgisch ausgerichtet, eine teils verzwickte Dreh- und Sprungorgie entfaltet. Die Tänzer und Tänzerinnen der Hauptrollen sind zwischen 12 und 17 Jahren im Hamburger Ballett dabei. Hélène Bouchet (Titania/Hippolyta), seit 1998 bei Neumeier, überschlank mit ellenlangen Beinen, die Weiblichkeit kaum ausgeprägt, zelebriert eine kühle Linie, taut erst gegen Ende auf. Als Theseus/Oberon demonstriert Ivan Urban (seit 1994 dabei) solide Technik, die kaum je Ausdruck vermittelt, ihm fehlt trotz eindrucksvollem Körper die majestätische Ausstrahlung. Umso überzeugender entwickelt Joêlle Boulogne (seit 1994) die Helena von der scheuen zur selbstbewussten Frau, zur Gefährtin des Demetrius, den Yohan Stegli (1999) vom quasi Spielzeugsoldaten zum liebenden Mann verwandelt. Catherine Dumont (1995) setzt bei Hermia auf Liebreiz, der reizvoll mit Carsten Jungs (1994) ungestümer Leidenschaft ergänzt wird. Kiran West (2005), stellvertretend genannt aus der sechsköpfigen Handwerkergruppe, kostet im Drama „Pyramus und Thisbe“ die Frauenrolle bis knapp an den Rand des Klamauks aus, verrät aber nicht seine Kollegen, deren Komik aus ihrem unbedingten Spielernst erwächst. Die Drehorgel wimmert dazu Fragmente aus „La Traviata“, drei Leichen türmen sich schließlich übereinander. Alexander Riabko (1996), geschmeidig, sprung- und drehselig, ein Irrwisch des ständigen Richtungswechsels, Beherrscher des Raums räumt ab als quirliger Puck; Kevin Haigen, der Urpuck 1977, wird wahrscheinlich entzückt sein von seinem umwerfend präsenten Nachfolger.

Die Hamburger Symphoniker betonen – bei leichten Unsicherheiten – unter dem Dirigat von Simon Hewett den gehörigen Schmelz und die rhythmische Kraft Mendelssohner Musik. Neumeier, unübertroffener Meister des Handlungsballettes, hält die Lage in der Schwebe: Philostrat, Zeremonienmeister am Hofe Theseus’, zaubert am Ende eine rote Blume hervor wie jene von Oberon und Puck. Traum und Tag vermengen sich, unbeantwortet bleibt die Frage: Was ist die wahre Realität? Alles dreht sich wie Titania und Oberon, der seine Königin beim Schließen des Vorhanges kopfüber in der Senkrechten hochhält. Der lang anhaltende Beifall nach dem Finale erreicht erhebliche Phonstärken.

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