Polyphoner Tanz

Isabelle Schads Großprojekt „musik (praticable)“ in den Sophiensaelen

Berlin, 03/05/2011

Wie einen heiligen Ort meiden sie die weiß grundierte Szene, die 14 Akteure des Projekts „musik (praticable)“. Ehrfürchtig umstehen sie jene Fläche in den Sophiensaelen, die dann eine Stunde lang der Platz aller kompositorischen Bemühungen werden wird. Lange allerdings zögert Isabelle Schad, ihre Tänzer ins Rennen zu schicken: Drei Mal nehmen sie Anlauf, sich den Raum zu erobern, jeweils in anderer Aufstellung, kehren wieder an den Rand zurück. Extrem verschieden sind sie von der Physis her und auch, wie sich später herausstellt, von ihrem Zugang zum Tanz, kommen aus fast ganz Europa, viele ausgebildet in Berlins Hochschulübergreifendem Zentrum Tanz. Mit ihnen versucht die Choreografin, tänzerische Strukturen analog zu musikalischen zu entwickeln, Tanz „hörbar“ zu machen. Neu ist das nicht, George Balanchine, Uwe Scholz und andere waren darin Meister. Für den zeitgenössischen Tanz ist die Fragestellung dennoch spannend. Isabelle Schad, erzogen in der Stuttgarter John Cranko-Schule, in Dortmund, Bern, Chemnitz engagiert, ist Grenzgänger zwischen beiden Stilistiken und landete mit dem Duo „Amorph erstarrte Schmelze“ 1999 ein weithin tourendes Erfolgsstück. Seither experimentierte sie eher mit der kleinen Form und legt nun mit der Uraufführung für den Festsaal ihre personell größte Arbeit vor.

Aus den unterschiedlichen Raumkonstellationen der Körper, teils mit gleicher Armhaltbewegung, alles noch in der Stille, formt sich beinah unvermerkt Tanz, der alle erfasst und einem inneren Rhythmus folgt. Gut anzusehen ist jenes Fluten der Leiber, das in der Zusammenschau an eine tänzerische „Melodie“ erinnert. Als Chormusik von Bach einsetzt, verlassen alle wie auf der Flucht die Szene, nähern sich nur in kleinen Gruppen dem Klang, finden zurück zu ihrer flutenden Bewegung. Was erstaunt: Weder zum Text noch zur Musik sucht der Tanz eine nähere Beziehung. Jeder bleibt in seinem individuellen Material und geht langsam zu Boden, bis eine Art starrer Skulpturenpark entsteht. Als Bach leises Summen nachfolgt, verlagern sich die Plastiken in eine Diagonalfläche, schmiegen sich zu Gruppen, als ginge es um Beistand oder gemeinsame Trauer. Immer wieder flackert daraus Tanz auf, fast stets solistisch und ohne Bezug zu anderen. Wenn Kontakte stattfinden, in Umarmungen oder Bodenlagen, sind sie voller Zärtlichkeit.

Beinah traumwandlerisch vollzieht sich der Tanz, mutet oft wie eine strukturierte Improvisation an. Dem widersprechen die End- und Treffpunkte von Bewegung. Völlig frei, ungebunden ist sie, erlaubt auch den Zusammenprall im Raum. Dann ergibt sich eine konkrete Form: Aus der Reihe wird ein durch den Raum wandernder Pulk; als er durch die Mitte vorströmt, überkommt ihn wieder Bach-Musik, leise erst, dann in Vollton. Wieder reagiert der Tanz nicht anders als vorher, leichtfüßig gehüpft federn sich die tänzerischen Einzelwelten der Akteure vom Klang ab, bis aus dem Wirbel ein Fluss wird, dem man mit den Augen wieder gern folgt. Die barocke Musik fällt gewissermaßen in den Tanz ein, behindert ihn eher, als dass sie ihn inspiriert, sich auf sie einzulassen. „Schweigt“, singt der Tenor: Als Minimalreaktion heben sich erneut die Arme, voll Sanftheit bilden sich zu sechs Gruppen verklammerte plastische Gebilde, die ihre Position ganz leicht ändern. Hell leuchtet dann die Fläche auf, als sich die Tänzer in die Anfangsstellung am Rand begeben. Rhythmus reinen Tanzes haben sie gezeigt, ihr Verhältnis zur Musik aber bleibt unklar.

Ehe ab 19. Mai endgültig die Handwerker einziehen und bis in den Herbst hinein sanieren, verabschieden sich die „alten“ Sophiensaele mit Laurent Chétouanes „horizon(s)“, Flohmarkt, koreanischer Chor-Performance, dem „Best of 100° Berlin“ sowie einem zweigeteilten „Body Archive“ von Lindy Annis. Weiteres im Spielbetrieb außer Haus.
Nochmals 3., 4.5., 20:30 Uhr, Sophiensaele, Sophienstr. 18, Berlin

www.sopiensaele.com

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