Internationales Online-Dancefestival SideBySide 2011

Ulrich Völker sichtet die Filmauswahl

Lüneburg, 07/10/2011

Sehr unterschiedliches Niveau bestimmt in diesem Jahr das Internationale Online-Dancefestival SideBySide: „Luminar" und „Urban investigation“ greifen kreativ zu kurz, „On the road” und „Harmony sucks” erreichen ein akzeptables künstlerisches Limit, „Dinner“ besticht durch fühlbare Körperlichkeit, „More than bread“ ragt mit souveräner Gestaltung und Interpretation heraus, stellt völlig unverkrampft Hiphop- und Martial-Art-Elemente in einen dramaturgisch schlüssigen Rahmen: eine Entdeckung. Strahlende Erleuchtung „LUMINAR“, 204 Sekunden Annika Huckfeld, geb. 1981, Deutschland Eine weiß überstrahlte Gestalt – Huckfeldt in einer Art Raumanzug - agiert unter Blaulicht in einem verspiegelten Gang, scheint schwerelos zu werden, kopfüber hängend (Kubricks „Odyssee im Weltraum“?) in einem Tunnel. Klaustrophische Momente in engen Gängen münden in einem offenen Saal mit futuristischen Apparaturen. Die grelle Helligkeit steigert sich mehr und mehr als drohe Fukushima. Wenngleich sorgfältig filmisch gestaltet (Markus Haaser), verharrt es in den Grenzen einer mäßig berührenden Performance. 1 Stern Spaziergang der etwas anderen Art „URBAN INVESTIGATION“ 254 Sek.

Massimo Gerardi, Italien, geb. 1966 Einen Gang durch städtisches Ambiente unternimmt Massimo Gerardi als Choreograf und Tänzer. Von oben fällt er ins Bild, landet vor einer Grafitti-Mauer und beginnt die Untersuchung des „urbanen“ Raumes. Schiebt sich an weiteren Grafitti-Mauern entlang, tanzt als Schatten über Gitter und unterm Hallendach, erprobt in einem Stadion die Belastbarkeit der Sitzbänke – und begegnet keinem Menschen. Das lange Crescendo in der Musik (Thomas Wansing) beachtet Gerardi nicht. Ob melodische Fragmente, pulsierender Rhythmus – Gerardi hält seinen fließenden Duktus, konzentriert nach innen.

2 Sterne Kühle Genauigkeit „ON THE ROAD” 280 Sekunden Cheng,Tsung Lung, Taiwan, geb. 1976. Zwei Männer (Chang, Chien Hao- Lin, Sheng-Xiang) im kahlen Raum, gekleidet in alltägliche kurze Shirts und lange Hosen machen sich auf den Weg, „on the road“: Ruhige, gelassene Bewegungen, der ganze Körper wird dafür eingesetzt: flexible Armvariationen am und um den Körper, kräftige Beinarbeit, auch Sprünge, meist jeder für sich, wenige Überschneidungen. Nur im Finale ergeben sich synchrone Bewegungsfolgen. Traditionelle Musik im ersten Abschnitt, im zweiten europäisch getönte Klänge (Lin. Shen-Xiang). Präzise absolviert, entwickelt sich eine eigentümlich kühle Stimmung, die über Verdichtung zum Betrachten anregt. Choreografisch sprühen kaum Funken in der brav abgefilmten Produktion.

3 Sterne Krude Mischung „HARMONY SUCKS“, 159 Sekunden OFRA IDEL, Israel, geb. 1975 Brilliert mit ausgefeilten Videosequenzen (Sascha Engel), projiziert auf einem elastischen Streifenvorhang, der einen Kubus’(links hinten) umhüllt. Die vier „realen“ Tänzer/Innen können durch den Vorhang schlüpfen, mischen sich so mit den überdimensionalen Filmbildern. Gezeigt werden Gesichter, riesige Augen, Menschen in teils rasanten Bildwechseln. Der oft gleichzeitige Ablauf von realen und Filmaugenblicken schafft eine eindrucksvolle Tiefe. Idel arbeitet mit Fragmenten, mit Kurzmotiven, Andeutungen. Porzellanklirren deutet Gewalt an, Gestalten brechen in aggressive Gesten aus, beruhigen sich wieder, kontrastieren zu rohem Zupacken und wildem Kopfschwingen im Kubus. Eine Gestalt schreitet auf das Filmauge, groß wie LKW, zu und tritt hindurch. Clever gefilmt, hält das Stück seine surreale Spannung.

3 Sterne Szenen einer Zweisamkeit „DINNER“, 252 Sekunde MAYA STERN & TOMER SHARABI, Israel Beide geb. 1973 Maya Sterns rechter, nackter Fuß am hoch gestreckten Bein steckt mit den Zehen in seinem Mund, sie führt ihn herum wie einen Bären am Nasenring, zwingt den auf allen Vieren kriechenden Tomer Sharabi in einen Kreis. Auf dem Rücken liegend balanciert er sie mit einem Arm und Bein: prekäres Gleichgewicht. Kammer-Jazzmusik (Triosk) treibt ohne Hast. Lassen sie sich aufeinander ein, gehen sie in den engsten Körperkontakt, Haut an Haut, ein sinnliches Ereignis ohne Zärtlichkeit. Schoß an Schoß in der Hocke wirft er sie hoch und fängt sie wieder auf: der Geschlechtsakt als athletische Übung. Am Ende kriecht sie am Boden, er zieht sie, streichelt sie, würgt sie... Geradeaus, ohne Schnörkel gestaltet das Paar, allerdings ohne originelle, eigenständige Choreografie.

4 Sterne Streit um Stulle More than Bread Julien Kho Budorovits & Gia Ban To, Deutschland Geb. 1988, 1991 Futterneid als Thema für ein witziges, frisches Tanzstück – darauf muss man erst ´mal kommen. Der eine gönnt dem anderen das Pausenbrot nicht und beißt zeitgleich mit ihm in die Schnitte. Im blitzartig leer geräumten Klassenzimmer - vorher Ort von Spielen wie Papierbällchen werfen - entspinnt sich ein Duell zwischen Stulleneigentümer und Stullenneider. Im selbstredend akrobatischen Stil von Hiphop und Streetdance spult sich zu hitzigen Beatklängen ein lockeres Drama zwischen den beiden ab, vom Choreografen-Duo Budorovitz und Tu mit faszinierender Genauigkeit präsentiert. Wie etwa beim synchronen, aber gegenläufigen Salto rückwärts. Eingeblendete Worte unterlaufen unerwartet den Ablauf, bezeichnen zwei Mal offenbar den betreffenden Trick. JUBAM: eingefroren in der Handstandpose mit angewinkelten Beinen. GONG BAO: Aus der Drehung auf einer Schulter in den Kopfstand. Sie mischen unbefangen Hiphop-‚Stunts‘ mit Elementen der martial arts, liefern sich ausgiebige Beingefechte, immer mit humorigem Unterton, Tanz-Comedy. Zwischendurch hockt plötzlich der eine auf den Armen des anderen – bass erstaunte Mienen. Zum Schluss wird einer durch einen Beinstoß des anderen ausgeknockt, fällt zu Boden und spuckt ein Brotstück aus. Aus. Doch halt, nicht aus. Nach dem Abspann - gefilmt wurde übrigens im Klassenzimmer einer städtisch- katholischen Grundschule - folgt die finale Endszene: Ein Schüler entfaltet auf einer Metallbank im Freien sein appetitliches Wurstbrot, beißt herzhaft zu, als schon sein Kontrahent wie ein Affe neben ihm hockt und hineinbeißt. Kurzweilig, einfallsreich und sehr professionell, auch in der filmischen Gestaltung (das Duo selbst plus Shawn Budorovits).
Für mich das eindeutige Siegeropus. 5 Sterne 3000 Euro Preisgeld winken insgesamt den Siegern des 7. internationalen Online-Dancefestival SideBySide-net, zu sehen und abzustimmen bis zum 10. Dezember unter www.side-by-side.net

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