Im Zeichen des Abschieds

Robbins und Spoerli als Finale der vorletzten Spielzeit der Spoerli-Ballettära

oe
Zürich, 02/04/2011

Als Finale der fünfzehnten und damit vorletzten Spielzeit der Spoerli-Ära präsentiert das Zürcher Ballett einen Zweiteiler: Jerome Robbins‘ „In the Night“ und Spoerlis „Lied von der Erde“. Das Robbins-Ballett mutet wie ein Nachgedanke zu Robbins‘, ebenfalls auf Chopin basierende „Dances at a Gathering“ an: drei Pas de deux und ein Pas des six zum Schluss. Es ist die nachgeholte Vervollständigung von Spoerlis Hommage an das amerikanische Ballett: nach Balanchine, Cunningham, Twyla Tharp, William Forsythe und Christopher Wheeldon (auch wenn der ein gebürtiger Engländer ist). Spoerlis eigenes, bei dieser Gelegenheit uraufgeführtes „Lied von der Erde“ zu Gustav Mahler Sinfonie für Tenor, Altstimme und Orchester nach chinesischen Gedichten schließt den Bogen seines eigenen choreografischen Oeuvres der Ballette über den Lebenskreislauf, von ihm selbst begonnen mit dem Bau seiner Bach-Kathedrale anno 1993 in Düsseldorf mit den „Goldberg-Variationen“.

Ein Ballettabend, der erneut den musikalischen Anspruch der Zürcher Ballettpolitik bekräftigt: die Chopin-Nocturnes, von Alexey Botvinov, Spoerlis pianistischer Adlatus aus der Ukraine seit den Düsseldorfer Tagen, live am Flügel gespielt – die Mahler-Sinfonie von Vladimir Fedoseyev geleitet, Dirigent bereits der Spoerlischen Zürcher Choreografie zu Mahlers Fünfter Sinfonie, mit dem Opernorchester und den Gesangssolisten Liliana Nikiteanu und Erin Caves. So schließt sich der Bogen dieses Ballettabends auf exquisitem musikalischen Niveau.

Robbins‘ „In the Night“ also als jüngste Neuerwerbung für das Americana-Kabinett der Spoerlischen Choreografischen Sammlung. Drei kostbare Preziosen aus der Juwelen-Kollektion der Robbinsschen Silberschmiede: drei Variationen à deux über die verschiedenen Aggregatzustände der Liebe plus eine vierte als krönender Pas de six, von Robbins aus der Musik auf die Musik choreografiert, die Arbeit eines Ziseleurs, der Musik in Tanz verwandelt. Von den drei Paaren des Solisten-Sextetts Giulia Tonelli und Olaf Kollmansperger, Sarah-Jane Brodbeck und Vahe Martirosyan, Galina Mihaylova und Arsen Mehrabyan aus Asturien, Armenien, Spanien und Bulgarien glitzernd wie ein Diadem des Zürcher Nobelklassizimus dargeboten.

Und danach dann also die Spoerlische Interpretation der Mahlerschen Liedersinfonie: eine choreografische Monumental-Architektur als Bilanz des Lebenskreislaufs, melancholisch timbriert, Erinnerung an die unbeschwerte Jugend im Wissen ihrer Vergänglichkeit, an die Schönheit und ihren unaufhaltsamen Verfall, an den Tod als ständigen Begleiter von Kindesbeinen an. In großen Ensembleformationen und kleinen Gruppen, ohne herausstechende Soli, aggressiv und dann wieder von einer keuschen Zärtlichkeit, mit symmetrischen Spieglungen und kanonischen Staffettenübergaben und immer wieder skulptural umgeschichteten Arrangements, exerzierhaften Marschblöcken und lyrischen Episoden, sportivem Wettstreit und poetischen Exkursen. Mit den Protagonisten Der Mann (Vahe Martirosyan – ein anderer Moses vom Ararat), Die Ewigkeit (Karine Seneca – die Verheißung des Paradieses), Der Tod (Filipe Portugal als Freund wie in Schuberts Streichquintett) und Die Schönheit (Sarah-Jane Brodbeck – die poetische Verklärung) – dazu noch die enigmatische Gestalt Der Zweigeteilte (Arman Grigoryan), wie so manches in diesem Ballett rätselhaft, offenbar von den Texten der chinesischen Gedichte inspiriert, leider von den beiden Sängersolisten so total musikalisiert, dass man von den deutschen Übersetzungen kaum ein Wort verstand).

Mahlers Abschied von der Welt – von Spoerli als Abschied aus seiner vermutlich vorletzten Lebensphase interpretiert, sechsundvierzig Jahre nach Kenneth MacMillans inzwischen zu einem Klassiker des Weltballetts avancierten Version für das Stuttgarter Ballett. MacMillan war damals sechsunddreißig, Spoerli ist heute einundsiebzig Jahre alt. Entsprechend der unterschiedliche Reflex der Lebenserfahrungen in den beiden Balletten: Überwiegen bei MacMillan die hellen, zukunftsoptimistischen Visionen, so bei Spoerli die dunkleren, komplizierteren, wesentlich komplexeren, widersprüchlichen und auch vielgestaltigeren Erfahrungen. In Florian Ettis kosmischer Raumerweiterung für Spoerli entrollt sich ein auf jegliches illustrative Dekor verzichtendes Panorama soghafter Bilder und Szenen, von den Tänzern des Zürcher Balletts wie ein mittelalterliches Fresko durchglüht.

 

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