„Ich möchte dem Publikum mit jeder Vorstellung etwas geben, was es so noch nicht erlebt hat“

Ein Interview mit der Primaballerina Alina Cojocaru anlässlich ihres Gastspiels in Hamburg

Hamburg, 02/03/2011

Redaktion: Sind Sie das erste Mal in Hamburg?

Alina Cojocaru: Nein, schon zum dritten Mal. Ich hatte zwei Auftritte im Rahmen der Nijinsky-Gala, zuletzt 2004 mit dem Pas de deux aus dem zweiten Akt „Giselle“. Da war ich immer nur wenige Tage hier. Jetzt bin ich zum ersten Mal für ein abendfüllendes Ballett gekommen, ich arbeite mit der gesamten Kompanie zusammen.

Redaktion: Und wie fühlt sich das an?

Alina Cojocaru: Großartig! Speziell die Arbeit mit John Neumeier – ich bin sicher, dass viele mich um diese Erfahrung beneiden. Es ist einfach wunderbar, wenn der Choreograf selbst das Herz der Truppe ist, und es ist unglaublich, wie viel man dabei lernt. Der Prozess im Ballettsaal hat für mich etwas Magisches. Schon in Kopenhagen habe ich gespürt: er hat so viel zu geben. Es ist für Außenstehende vielleicht schwer zu verstehen, wie dieser Arbeitsprozess im Ballettsaal abläuft, aber wenn du als Tänzerin jemanden hast, der dich in gewisser Weise führt, der dir eine Fülle von Informationen über eine Rolle gibt und so viel Gefühl damit verbindet – das hat schon etwas Magisches. Jedenfalls für mich.

Redaktion: Sie arbeiten normalerweise in London. Kennen Sie das nicht auch von dort?

Alina Cojocaru: Ich möchte jetzt nicht die Kompanien vergleichen. Es ist einfach die Tatsache, dass der Choreograph vor Ort ist, und noch dazu so jemand wie John. „Sommernachtstraum“ ist ein Stück, in dem es um eine große Geschichte und große Gefühle geht, wenn da der Choreograf selbst da ist und unsere Emotionen weckt, die wir mit den Rollen und dem ganzen Stück verbinden, dann kommt ein Ballett anders in die Welt.

Wenn man es ohne den Choreografen einstudiert, ist das meiste festgezurrt – da gibt es bestimmte Regeln, eine bestimmte Linie, die muss man einhalten, und wenn man etwas anders macht als es vorgegeben ist, dann ist das falsch. Wenn der Choreograf aber anwesend ist, bist du am Entstehungsprozess mehr beteiligt, dann hast du mehr Freiheit, mehr Raum für Kreativität. Es ist lebendiger. Ich will nicht sagen, alles andere ist nur rückwärts gerichtet, ich bin immer bemüht, jeder Rolle etwas Frisches zu geben, überall etwas Neues zu entdecken. Aber du bist doch mehr Teil einer Vergangenheit in diesem Moment – auch das hat durchaus seinen Reiz. Mit dem Choreografen zusammen ist aber doch definitiv mehr Leben in dieser Arbeit, und auch mehr von der Persönlichkeit.

Redaktion: Was ist das Besondere an der Arbeit mit John Neumeier?

Alina Cojocaru: Was ich an John so schätze, ist, dass er so viele Gefühle aus uns herausholt, dass er uns bei der Arbeit so viele Informationen über das Stück vermittelt, das ist einfach phänomenal. Du probierst dann viele verschiedene Möglichkeiten aus, bis du genau da bist, wo er dich haben will. Am schönsten ist es, wenn sich Bewegung und Ausdruck für mich richtig angefühlt haben, und John sagt genau dann: „Ja, das ist es!“. In diesem Moment realisiere ich, dass wir das gleiche Ziel haben und das gleiche Verständnis von dem, was wir tun. Jedes Mal, wenn John mich um etwas bittet, bin ich frei zu experimentieren, bis wir dieses „Ja, das ist es!“ finden. Diese Suche und dieser Prozess sind die Magie, die man nur erlebt, wenn der Choreograf selbst mit dir arbeitet.

Redaktion: Aber Sie haben doch schon mit Choreografen Stücke erarbeitet?

Alina Cojocaru: Ja, natürlich. Aber es waren vorwiegend kurze Stücke von 10 bis 15 Minuten Länge. „Sommernachtstraum“ ist ein großes Handlungsballett, das ist ein großer Unterschied. Vielleicht komme ich jetzt an einen Punkt in meiner Karriere, wo mir Emotionen und Dramatik wichtiger werden. Deshalb hänge ich so an dieser Arbeit.

Redaktion: Wie fühlt sich diese Doppelrolle Hippolyta/Titania für Sie an, welche Beziehung haben Sie dazu?

Alina Cojocaru: Nun, in London haben wir Ashtons Einakter „The Dream“, darin habe ich auch Titania getanzt. Aber das ist nur eine Seite. Das Schöne an Johns Version ist die Dualität in einer Person. Ich finde Hippolyta und Titania gleich stark, die eine hat die Kraft mehr in sich, die andere zeigt sie nach außen. Und so verschieden beide sind, so ähnlich sind sie sich doch. Für mich ist es faszinierend auszuprobieren, wie weit ich da gehen kann, ich mag beide Frauengestalten sehr. Ich mag die Stärke von Hippolyta, ihre Träume und Wünsche und ihre Sehnsucht nach Liebe. Das ist alles so präsent in ihr, aber mehr innen, mehr in den Augen und im Herzen. Und dann kommt der Moment des Erwachens, und alle ihre Träume werden wahr. Sie bekommt den Mann und auch alles andere, das sie sich so sehr gewünscht hat. Es gibt so viele Momente, so viele Gesten die so viel bedeuten. Ich hoffe, dass ich das zeigen kann.

Redaktion: Das sind typisch weibliche Träume...

Alina Cojocaru: Ja, natürlich. Aber es ist so schön, weil in Johns Version alles da ist, bis in die intimsten Details, und eben nicht nur diese romantische Seite.

Redaktion: Ist es für Sie sehr schwierig, Ihr Innerstes so nach außen zu kehren auf der Bühne?

Alina Cojocaru: Um ganz ehrlich zu sein: In diesen Momenten vergesse ich das Publikum. Ich identifiziere mich so sehr mit der Person, die ich darstelle, das wird für mich alles so real, und ich hoffe, dass es so auch so beim Publikum ankommt.

Redaktion: Gibt es Stücke, die Sie lieber tanzen als andere?

Alina Cojocaru: Ich versuche immer das Ballett zu lieben, das ich gerade tanze. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Ich mag die Herausforderung, in jedem Stück – auch in denen, die ich schon oft getanzt habe – immer wieder etwas Neues zu entdecken, Aspekte zu finden, die ich vorher noch nicht gesehen habe. Wenn ich allerdings in einer Spielzeit kein einziges Mal „Giselle“ getanzt habe, fehlt mir etwas. Beantwortet das Ihre Frage??

Redaktion: Wie sieht es mit den modernen Stücken aus? Oder ist Ihnen die Klassik lieber?

Alina Cojocaru: Ich mag beides. Hauptsache, es gibt eine Geschichte hinter den Bewegungen, die ich mache. Ziemlich früh in meiner Karriere habe ich Johan Kobborg getroffen, er hat mir beigebracht, immer zu fragen: Warum mache ich das? Jeder Schritt sollte ein Gefühl ausdrücken oder einen Grund haben, er sollte im Zusammenhang mit der Geschichte stehen, die ich im Tanz erzähle. Damit wird das Stück immer wieder neu.

Eine Arabesque, zum Beispiel, kann man auf so verschiedene Art und Weise machen – als Zeichen der Freiheit, oder wie ein Schwan, der gerade wegfliegt. Wenn ich betrübt bin, wird die Arabesque eher lyrisch, während sie, wenn ich etwas Großartiges erlebt habe, eine völlig andere Energie bekommt. Wenn man es so sieht, besteht jeder Schritt aus unendlich vielen Möglichkeiten. Dann wird sogar jede Probe zum Genuss, weil du jedesmal etwas anderes entdeckst, wenn du es mit unterschiedlichen Gefühlen erfüllst. In diesem Sinne spielt es für mich keine Rolle, ob ich ein klassisches Stück tanze oder ein modernes, ich versuche beides zu genießen.

Redaktion: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist es Ihnen wichtiger, die Seele eines Stückes zu zeigen und nicht nur eine virtuose Technik?

Alina Cojocaru: Ganz eindeutig – ja! Wenn ich selbst eine Aufführung sehe, und sie ist technisch einwandfrei, dann gehe ich nach Hause und denke, das war aber mal hübsch getanzt. Aber wenn ich eine Vorstellung sehe, wo sich eine Tänzerin in ein Solo völlig hineingibt, dann ist das etwas ganz anderes. Und selbst wenn irgendetwas davon nicht perfekt gelingt, wird mir diese Version mehr in Erinnerung bleiben als die andere. Ich werde mich an die Seele dieser Darstellung erinnern, an diese Freiheit, keine Angst davor zu haben, nicht perfekt zu sein. Einfach weil ich glaube, dass es Perfektion nicht gibt. Dass wir jeden Tag im Ballettsaal an dieser Perfektion arbeiten, ist dazu kein Widerspruch. Wenn wir auf der Bühne stehen, müssen wir in der Lage sein, diesen perfektionistischen Anspruch zu vergessen und einfach das Tanzen zu genießen.

Wenn etwas heute nicht richtig klappt, gibt es schließlich immer noch das Morgen oder das Übermorgen oder die nächsten zehn Jahre! Es ist doch so: ich kann mich noch so sehr anstrengen – ich werde nie ganz und gar perfekt sein. Je älter ich werde, desto leichter fällt es mir, das zu akzeptieren. Wenn du noch sehr jung bist und sehr hart an dir arbeitest, und es gelingt Dir dann im Ballettsaal etwas richtig gut, alles stimmt, alles ist geschmeidig, exakt und wunderschön – und dann gehst du auf die Bühne, und genau das klappt überhaupt nicht, dann bist du total enttäuscht, am Boden zerstört, eben weil du genau weißt: du kannst es.

Der springende Punkt ist: jede Aufführung ist live. Das Gefühl, das du zeigst, hast du jetzt, in diesem Moment. Und da steckt so viel mehr drin als nur die Tatsache, dass du bei einer Drehung früher von der Spitze gekommen bist. Wenn ich als Zuschauerin im Publikum sitze, wird mir das gänzlich unwichtig – und ich bin selbst Tänzerin! Ich habe einmal eine Kollegin in einer Vorstellung gesehen, und eine ihrer Pirouetten hat nicht funktioniert. Am Ende hatte ich das völlig vergessen, weil mich ihre künstlerische Darstellung so fasziniert hat. Ich bin gleich zu ihr gegangen und habe sie zu dieser großartigen Vorstellung beglückwünscht, aber sie sagte nur: „Oh Gott, hast Du diese Pirouette gesehen...“ Und ich sagte nur: „Genau so war ich auch...“

Es hilft mir deshalb andere auf der Bühne zu sehen. Weil ich dann erlebe, dass es viel wichtiger ist, die Seele anzusprechen als immer nur auf die Technik zu achten. Und ich sage das sehr bewusst, gerade als Tänzerin. Für mich war diese Erkenntnis eine wichtige Erfahrung – lass los und genieße. Habe nicht immer den Ehrgeiz, perfekt sein zu wollen, aber habe das Ziel, dem Publikum etwas zu geben, was es vorher so noch nicht gesehen hat.

Redaktion: Sie führen ein sehr internationales Leben, gastieren häufig auf den großen Bühnen in aller Welt. Wie geht das zusammen mit Ihrer privaten Lebensplanung, mit Ihrer Partnerschaft?

Alina Cojocaru: Ich lebe ja jetzt schon sieben Jahre mit Johan Kobborg zusammen – darüber bin ich sehr glücklich. Er tanzt auch sehr viel, und er choreografiert, deshalb arbeiten wir manchmal an unterschiedlichen Orten, und dann auch wieder zusammen. Das funktioniert gut.

Redaktion: Wollen Sie Kinder?

Alina Cojocaru: Ja, natürlich – in einigen Jahren. Im Moment möchte ich noch viel auf Reisen sein können, ich habe aufgrund meiner Verletzung ein ganzes Jahr verloren, deshalb möchte ich jetzt so viel wie möglich tanzen. Und gerade die Arbeit mit John möchte ich nicht missen. Sie gibt mir so viel. Ich habe das gerade jetzt gemerkt, als ich zwischendurch wieder in London war und an „Schwanensee“ gearbeitet habe – die Erfahrung mit John wirkt auch dort noch nach. Was er zu mir über das eine Stück sagt, kann ich auf ein anderes übertragen – so werden wir bessere Künstler.

Redaktion: Gibt es noch ein Werk von John Neumeier, das Sie gerne tanzen würden?

Alina Cojocaru: Nun, da gibt es so einige... Natürlich die großen dramatischen Rollen, die ich bisher noch nicht getanzt habe. Oder eine ganz neue Kreation. Mit John würde ich alles machen, jedes Ballett, nur um diese Erfahrung im Ballettsaal zu haben, dieses gemeinsame Arbeiten. „Kameliendame“ ist natürlich ein ganz großer Traum. Wir haben in London „Marguerite and Armand“, das ist die gleiche Geschichte. Ich mag diese Rollen, die eine gewisse Reife erfordern. Die Tatjana in Crankos „Onegin“ hat mir viel gegeben, ich habe immer versucht, mit den Jahren noch ein bisschen mehr Erfahrung hineinzulegen, mit dem Leben bleibt das ja nicht aus. Es war interessant – ich durfte diese Rolle ja schon als sehr junge Frau tanzen – und jedes Mal, wenn ich damit wieder auf der Bühne stand, habe ich daran etwas Neues entdeckt, und ich fragte mich: warum ist mir das bloß früher nie aufgefallen?

Ich bin einfach älter geworden. Da stehen andere Aspekte im Vordergrund als in den Jahren davor. Deshalb mag ich es sehr, ein Stück nach einiger Zeit wieder neu einzustudieren – als Menschen ändern wir uns ständig, und so haben wir immer wieder Gelegenheit, etwas Neues zu entdecken.

 

Vita: Alina Cojocaru wurde 1981 in Bukarest geboren und begeisterte sich erst einmal für Gymnastik, Ballett machte sie nur als Krafttraining. Noch hatte sie keine Ahnung, was Ballett eigentlich ist – aber sie mochte die Bewegungen. Just in diesem Jahr gab es ein Austauschprogramm mit einer Ballettschule in Kiew, und Alina war eine der sieben Auserwählten. Ohne ein Wort russisch zu sprechen, ging sie als Zehnjährige in die Hauptstadt der Ukraine. Dort sah sie zum ersten Mal Ballett auf der Bühne – „Giselle“. Und ab sofort wusste sie: das ist mein Ziel. Sie verfolgte es mit großem Elan: im Januar 1997 gewann sie als 16-Jährige den Prix de Lausanne und ging – wiederum der Sprache nicht mächtig – als Stipendiatin für ein halbes Jahr nach London zum Royal Ballet. Dort erkannte man schnell ihr Talent und bot ihr einen Kontrakt als Gruppentänzerin an. Aber Kiew lockte mit einem Vertrag als Solistin, und so ging sie zurück in die Ukraine. Dort erarbeitete sie sich alle wichtigen großen Rollen von Don Quichotte über Nussknacker bis Dornröschen. Im Herbst 1998 wechselte sie dann doch als Gruppentänzerin nach London und schon im Februar 1999 erhielt sie ihre erste große Chance in „Symphonic Variations“ von Frederick Ashton.

Zum Ende der Saison wurde sie zur Solistin ernannt, und 2001 war sie dann tatsächlich am Ziel: Sie debütierte als Giselle und überzeugte darin so sehr, dass Sir Anthony Dowell sie unverzüglich zur Ersten Solistin ernannte. Seither ist sie eine gefragte Gastsolistin auf den großen Bühnen in aller Welt. 2004 erhielt sie den Benois de la Danse, 2010 wurde sie Ballerina des Jahrzehnts in Moskau und erhielt im selben Jahr den Rumänischen Preis für Musik und darstellende Kunst.
www.alinacojocaru.com

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern