Dreißig Jahre zu spät?

John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ beim Bayerischen Staatsballett

München, 24/04/2011

Es hätte natürlich schon vor mindestens dreißig Jahren nach München gehört, John Neumeiers 1976 für sein Hamburg Ballett entworfenes „Illusionen - wie Schwanensee“, vor allem wegen des weißblauen Bezugs: Ludwig II. (1845-1886) war ja Vor-Bild für die tragische Königsfigur in diesem Ballett. Aber auch, weil die Überblendung eines Menschenschicksals mit dem Tschaikowsky/Petipa-Klassiker „Schwanensee“ von 1895 bei ihrer Kreation, wenn nicht revolutionär, so doch eine Form-Neuerung war. Und auch das Thema Homosexualität auf der Bühne hätte damals wenigstens noch die Traditionalisten-Gemüter erregt. Heute ist dem Ballett, gegen alle Hoffnung, sein Alter anzusehen. Sein Schöpfer selbst hat auch längst neue dramaturgische Strategien entwickelt. Trotzdem:„Illusionen - wie Schwanensee“ hat immer noch einen hohen choreografischen Wert. Und – passend im „Ludwig-Jahr“ – war es ein euphorisch bejubelter Staatsballett-Festwochenauftakt im Münchner Nationaltheater.

Grundsätzliche Einwände vorweg: Für ein heutiges Zeitempfinden ist das Ballett (mit zwei Pausen) zu lang. Und Szenen wie das Richtfest eines königlichen Schlossprojektes mit Mädchen in Dirndln und herumbalgenden Buben in Lederhosen vor bayerischer Seen- und Gebirgslandschaft, das schafft zwar „couleur locale“, erinnert aber doch sehr an die Machart des 19. Jahrhundert-Balletts. Ähnlich der sehr bunte und choreografisch unruhige Maskenball. Obendrein gehen die Nationaltänze, die in Petipas „Schwanensee“ immer eine glanzvolle Attraktion sind, hier im gesellschaftlichen Gewusel ein wenig unter. Ein von Neumeier vielleicht beabsichtigter Realismus, der dem Betrachter jedoch nichts bringt. Auch die, von einigen Ausnahmen abgesehen (Cyril Pierre muss als kitschig hellblau gewandeter Prinz Siegfried auch noch eine strohgelbe Perücke tragen – ein Relikt der 70er!), attraktiven Kostüme von Ausstattungskünstler Jürgen Rose kommen im Ball-Getümmel nicht recht zur Geltung. Nebensächlichkeiten. Was in diesem gewendeten Klassiker zählt, was seine Modernität ausmacht, ist Neumeiers dramaturgisch feines Geschick, Typen und Klischee-Situationen des klassisch-romantischen Balletts (verzauberte Frauen, verträumte Prinzen, Bösewichter, enttäuschte Liebe, Verrat etc.) zu ersetzen durch Menschen und ihre psychologisch glaubhaften Handlungen. Neumeiers Hauptfigur spiegelt sicher nicht die Komplexität eines Ludwig II. Das kann Tanz nicht leisten. Aber hier erlebt man doch einen Menschen, zerrissen zwischen gesellschaftlichem Anspruch und seinen sexuellen und künstlerischen Neigungen. Für wahnsinnig erklärt und weggesperrt, driftet er ab in Erinnerungen und Wunsch-Visionen. In einer so erinnerten „Schwanensee“-Vorstellung träumt sich der König hinein in die Figur des Prinzen Siegfried. Und auf dem Maskenball wird seine im Schwanenkostüm erscheinende Verlobte Natalia für ihn zur echten Schwanenkönigin. Genau mit dieser einfach-raffinierten Gleichsetzung des Königs mit der Prinzen-Märchenfigur hat Neumeier seinen Anti-Helden schon blendend charakterisiert.

Tigran Mikayelyan, bekannt als brillanter Techniker, zeigt sich in der Rolle des weltfernen Königs auch als exzellenter Darsteller. Eine Frau lieben wollen – und es nicht können, das wird in seiner Gestaltung glaubhaft. Dass die Begegnungen mit dem „Mann im Schatten“ – den man als Ich-Abspaltung des Königs oder als die Angstprojektion seiner Homosexualität deuten könnte – eher blass ausfallen, liegt weder an Mikayelyan noch an Marlon Dino. Um seinen Schattenmann nicht auf eine Deutung festzulegen, hatte der hochgewachsene blonde Dino offensichtlich Weisung, ohne jede erotische Ausstrahlung, völlig neutral über die Bühne zu wandeln. Theatral funktioniert allerdings hat die Figur so leider nicht.

Was man sonst noch mitnimmt von diesem langen Abend, vom Staatsorchester unter Michael Schmidtsdorff gelegentlich ein bisschen rustikal, wenn besonders gefordert aber auch sensibel begleitet, sind die „Schwanensee“-Sequenzen. Sehr schön harmonisch das weiße Corps de ballet und außergewöhnlich in ihrer musikalischen Bewegungslyrik Daria Sukhorukova als Odette. Ganz anders, aber auch tief bewegend, die dramatisch immer so wunderbare Lucia Lacarra als Natalia in ihrem letzten Versuch, die Liebe des Königs zu gewinnen. Nicht nur, dass Neumeier diesen Pas de deux zu der Elegie aus Tschaikowskys „Hamlet“- Schauspielmusik in seinem Bewegungsfluss unklassisch: gleichzeitig wunderschön und doch mit schmerzvollen Brüchen choreografiert hat, die Lacarra legt da auch ihre ganze Seele hinein. Schon wegen dieser beiden Ausnahme-Ballerinen lohnt ein Besuch.

www.bayerisches.staatsballett.de

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