Beeindruckend klare Bildfantasie

In Paris bringt Angelin Preljocaj „Siddharta“ zum Tanzen

Berlin, 21/02/2011

/img/redaktion/siddharta.jpg Was haben wir damals, als Studenten, die Erzählungen Hermann Hesses verschlungen! Eine von ihnen heißt „Siddhartha“, 1921 abgeschlossen, und verhandelt den Weg eines Menschen zu seinem wahren Ich, seiner wirklichen Bestimmung. Im Sinn des Buddhismus bedeutet das: in Harmonie mit der Welt kommen, sie akzeptieren, wie sie ist, frei werden von Begehrlichkeit. Fast genau 80 Jahre später, 2010, hat für die Pariser Oper Angelin Preljocaj das Ballett „Siddharta“ kreiert. Auch wenn sich der äußerst produktive frankoalbanische Choreograf dabei nicht namentlich auf Hesse bezieht, weht dessen Gedankenwind doch sanft über die Szene.

Der junge Franzose Bruno Mantovani komponierte für das groß angelegte Projekt eine zeitgemäße, sparsam instrumentierte, bisweilen spröde Musik, die mit Motiven arbeitet, sich sonst eher rar macht, um die tänzerische Aktion nicht mit Tonwulst zu überschütten. Umso eindrucksvoller lässt sich auf der unlängst erschienenen DVD genießen, was Preljocaj eingefallen ist. Wer ein opulent orientalisierendes Werk im Nachklang der Romantik erwartet, wird nicht auf seine Kosten kommen. Wer indes zeitgenössisch nüchternen Tanz liebt, der ohne jede Erzählgestik und Pantomime arbeitet und dennoch packende Bilder liefert, wird entzückt sein. Verständlich ist allemal, was der Choreograf mitteilt. Und das hat er in 16 Tableaux von insgesamt knapp 100 Minuten Dauer zerlegt.

Zu indisch inspirierter Percussion wuseln im ersten Bild vor Nebelwolken Trikotgestalten mit Helmen, wie sie auch Bigonzetti in seinem „Romeo“ einsetzt, unter zerklüftetem Weltenpendel. Nicht ablegen können sie die Kopfhülle, schlagen einander, sind die Elemente des Bösen. In dieses Chaos hinein trudelt Siddharta in Hose und ärmellos transparentem Shirt, musikalisch begleitet von Elektrogitarre. Barfuß im roten Partykleid agiert auch seine Gattin, die wie andere Höflinge ihren Platz auf einem rollenden Goldbarren als Wohlstandszeichen hat.

Pharaonisch thront im Zwickel der Keilform Siddhartas Vater, ein Gestell um den Leib, das für sein Eingebundensein in alte Strukturen steht. Was sich im Booklet liest, der Prinz erkläre dem Vater, er wolle nicht in die Politik, im Tanz so aber nicht darstellbar ist, löst der Choreograf geschickt: Im parallelen Tanz von Vater und Sohn hat jeweils einer die Brust, der andere den Rücken vorn - kein Gleichklang also. Dann die Epidemie im Reich: Die „Helmis“ schleppen, schleifen, wälzen zu tragischen Tönen Tote als willfähriges Tanzmaterial. Mit durchsichtigem Schleier aus hauchzartem Stoff, auf den jede Bajadere neidisch wäre, taucht die Erweckerin auf, für die Siddharta allerdings noch nicht reif ist; ihre 18 Botinnen im Flatterkleidchen dürfen als „weißer“ Akt gelten. Als Marionette noch führt sie Siddharta in einem ersten großen Duett. Als sie enteilt, sucht der Prinz zwischen den Botinnen nach ihr wie vordem Siegfried zwischen Schwänen seine Odette. Etwas vibriert bereits ahnungsvoll in seinem Körper.

Aus einem wundervoll körperengen Duo mit der Gattin entwindet er sich und streift symbolisch sein Oberteil ab; Freund Govinda hält da schon das Sakko bereit für die gemeinsame Suche nach dem anderen Leben. Wie sich im folgenden Duett die Sakkos und mit ihnen beider Existenz verknoten, ist so beeindruckend, wie der raffiniert unerreichbare Flug der Erweckerin über dem Prinzen als Reminiszenz an die Geistwesen der Romantik durchgeht. Als stabgestützte Silhouetten mit Kapuzen erscheinen die Pilger, denen sich die Freunde zeitweise anschließen und die wie Gladiatoren mit den Stöcken hantieren. Wieder ein choreografisch imposantes Bild, besonders, wenn die Freunde auf den Stäben gehoben werden wie weiland Spartakus von seinen Getreuen. Zu zerspleißender Flöte nähert sich das Bauernmädchen Sujata als Figur des Natürlichen; auf herunterfahrendem, dauerschwingendem Gestell mit zwei Plateaux verführen ihre Begleiterinnen die Freunde und versetzen sie in einen Taumel zwischen Lust und Reue. Unter einem warmtönig illuminierten Haus, szenische Metapher für Geborgensein und zugleich die reale Welt, lockt wieder die Erweckerin, mit einer Bewegungssprache, in der Armen und Händen Bedeutung zukommt. Pulsierend bricht in Gestalt von 14 unisex mit Röcken Bekleideten das Leben in Siddhartas Denkwelt; sein Arm hebt wie ein Penis das Bauernmädchen. Als ausdruckstänzerisch gefasste Reihe treten die Botinnen auf, tragen den einstigen Prinzen in Erleuchtungspose, bestehen den Kampf mit der Helmträgerin, besiegen so das Böse, wie im „Feuervogel“ die Kreaturen Kastscheis fallen. Ähnlich der Giselle fährt da hinter Siddharta seine Erweckerin aus dem Boden auf: In fulminantem Miteinander voller Schwebehebungen verschmelzen sie zu Einssein, wie stets in einem Tanz ohne jede Hektik, mit genügend Zeit, die Form für die beabsichtigte Aussage zu entwickeln. In Erleuchtungslage verharrt Siddharta schon, als sich auch der Vater verzeihend und demütig vor ihm neigt.

Gleich Mauro Bigonzetti mit seinem Berliner „Caravaggio“ ist Preljocaj mit diesem Pariser „Siddharta“ ein echter Wurf gelungen, gefertigt aus einem choreografischen Guss, mit klar konturierten Ensembles, gespickt besonders mit eindringlichen Pas de deux in ganz eigener Bewegungssprache. Olivier Beriots Kostüme sind so zeitlos, wie Claude Lévêques Bühne ohne Requisiten arbeitet und ganz auf Dominique Bruguières Räume aus Licht vertraut. Darin kommen Nicolas Le Riche als Titelgestalt, Stéphane Bullion als fast spiegelbildlicher Govinda, Aurélie Dupont als traumhafte Erweckerin, Muriel Zusperreguy als Sujata vortrefflich zur Geltung. Als König gibt es ein Wiedersehen mit Wilfried Romoli. Mit insgesamt 40 Mitwirkenden ist „Siddharta“ auch ein Ballett für die Gruppe. Ein Ohrenschmaus ist es durch das Orchester der Nationaloper unter Susanna Mällki, ein Augenschmaus nicht zuletzt durch Kameraführung und Schnitt.

Angelin Preljocaj: „Siddharta“, Ballet et Orchestre de l’Opéra national de Paris, Opéra Bastille, 2010, Arthaus Musik, 110 Min.

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