Wo die Musik des Tanzes Nahrung ist …

Das Zürcher Ballett beginnt mit Spoerli und van Manen die neue Spielzeit

oe
Zürich, 28/08/2010

Spielzeiteröffnung im Zürcher Opernhaus. Das ist auch zur Saison 2010/11, der vorletzten der Intendanten-Ära von Alexander Pereira, nicht anders als in all den Jahren zuvor: eine Ballettpremiere, noch vor Aufnahme des Opernbetriebs, zu live gespielter Kammermusik – und wie musiziert, von Alexey Botvinov, dem Hauspianisten aus der Ukraine, dem Geiger Bartlomiej Niziol und vier Quartettisten des Zürcher Opernorchesters – so picobello, als spielten sie für ein Konzertpublikum in der Tonhalle, immerhin Exquisites von Chopin („Nocturnes“), Bach („Partita für Solo-Violine“) und Schubert (das Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“). Soweit, so gut! Und doch hätte ich mir den Chopin eine Nummer größer gewünscht – zumal im Chopin-Gedenkjahr anlässlich der 200. Wiederkehr seines Geburtstags – sagen wir eine Einstudierung von Jerome Robbins‘ „Dances at a Gathering“ – eins der Halbdutzend Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, oder, wenn das zu teuer gewesen wäre, die Robbins-Miniatur der drei Pas de deux „In the Night“. Zumal da Robbins im umfangreichen Zürcher Spoerli-Repertoire bisher fehlt.

Immerhin hat uns Spoerli die unsäglichen „Les Sylphides“ erspart (die musikalische Ursünde des modernen Balletts). Und stattdessen auf seine eigenen „Nocturnes“ von 1997 zurückgegriffen, mit einem leicht japanisch timbrierten neuen Prospekt von Florian Etti – eine feinstimmig musikalische Gruppen-Choreografie für einen Solisten (Vahe Martirosyan, den entschieden persönlichkeitspräsentesten der Zürcher Armenier aus Eriwan), zwei unterschiedlich temperierte Solopaare Aliya Tanykpayeva und Arsen Mehrabyan, Viktorina Kapitonova und Stanislav Jermakov sowie drei Akkompagnisten – sie alle wie somnambule Geisterwanderer im kontrastreichen Pas de huit – inklusive einem fabelhaft attackierten Pas de six für die Männer, als ob die beiden Ladies nur Verwirrung stifteten (man stelle sich vor: Chopin im Sechs-Männer-Bündnis auf Mallorca!).

Danach dann also van Manens Stafetten-„Solo“ zu dritt (Olaf Kollmannsperger, Arman Grigoryan und Dmitri Govoroukhine – ganz ohne Armenier geht die Chose nicht!): die augenzwinkernde Choreografie als überkandidelte Figurationen der ohnehin „gotisch“ vertwisteten Geigencapricen. Geradezu hinreißend absurd! Könnte einen Gustav René Hocke inspiriert haben zu einem Sonderkapitel seines Standardwerks über den Manierismus! Von den drei Zürich-Boys über die Bretter geknattert wie ein Feuerwerk der Pointen! Und dann nach der Pause noch das eigentliche Hauptwerk: die Uraufführung „Der Tod und das Mädchen“ – nicht nur der populäre Variationssatz als Pas de deux, sondern komplett, alle vier Sätze, ein veritables Drama mit tödlichem Ausgang – sozusagen „Le sacre du mort“ – die meisten auf halber Spitze, nur das Mädchen, Nora Dürig, en pointe.

Doch die Hauptrolle ist hier ohnehin dem Tod vorbehalten, wieder Vahe Martirosyan – ein Dämon als Verführer zum Tod. Das Mädchen: widerstrebend, aber doch nur halbherzig, widerwillig angezogen von der mysteriösen Kraft des Todes (vielleicht in Erwartung des Paradieses – wie so viele der Selbstmordattentäter der Taliban). Zwischengeschaltet immer wieder die Intermezzi der fünf Gruppenpaare, die sie zurückzuziehen versuchen in den Kreis ihrer unbefangen-naiv vor sich hin tanzenden Freundinnen und Freunde. Und wie ist das choreografiert, hinreißend eingehend auf die unterschiedlichen Variationen des zweiten Satzes – mit den circenhaft verlockenden Solo-Cantabiles der Violine (IV. Variation) und den gewalttätig-masochistischen Exhibitionen der III. Variation). Ein Drama auf der dampfenden Erde (Florian Etti) – man denkt an das schwelende Moos der russischen Waldbrände! So toll kann musikalisch gezeugtes Kammerballett sein! Zu erleben derzeit in acht Vorstellungen des Zürcher Balletts. Acht Vorstellungen! Und auf wieviel bringen es die Neuproduktionen unserer üblichen Opernballettkompanien?

 

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