Hart und genau, Gewalt und Zärtlichkeit

Tomasz Kajdanskis „Nachtasyl“ nach Gorki

Dessau, 01/06/2010

„Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe“ heißt das Stück nach dem Schauspiel von Maxim Gorki, das am Wochenende zum ersten Mal über die große Dessauer Bühne ging und vom Premierenpublikum einhellig begeistert aufgenommen wurde.

Das Drama von 1901 spielt in einem Elendsquartier, in einer Absteige, wo eine Gruppe gescheiterter Menschen sich das ohnehin schwere Leben regelrecht zur Hölle machen. Dennoch schildert Gorki, wie sich die Menschen in ihrem Unglück zu artikulieren versuchen, ihr Überleben zu organisieren, ihren Anspruch ein Mensch zu sein soweit als möglich nicht aufgeben wollen. Das alles schließt Verletzungen, Misshandlungen, Gewalt gegeneinander, Tod und Selbstmord nicht aus. Eine der widersprüchlichsten Figuren ist der freundliche Pilger Luka. Er kommt in das Asyl mit seinen Geschichten voller visionärer Hoffnungen, die von christlicher Nächstenliebe motiviert sind. Sie erweisen sich aber als eine Art „Lügentherapie“ und werden ohne Wirkung bleiben, wenn er das Asyl wieder verlässt.

Gorkis Stück ist ein vorrevolutionärer Aufschrei. Was Kajdanski jetzt auf die Dessauer Bühne bringt ist ein Aufschrei nach den Revolutionen, stumme Schreie der Körper zu aufwühlender Musik von Arnold Schönberg und Detlev Glanert. Durch geschickte Dramaturgie und überzeugende Körpersprache, die ohne ein Wort, allein durch Bewegung und Musik, die grundsätzlichen Motive des Stückes sinnlich erfahrbar vermittelt, gewinnt der Abend rasch an suggestiver Wirkung. Dorin Gal verwandelt die riesige Bühne in ein aufgegebenes Schwimmbecken. Der Gegenwartsbezug ist deutlich, dennoch weist das Bild allgemeiner Nutzlosigkeit über sich hinaus. Auf dem Boden des Beckens befindet sich das Nachtasyl, das längst zum beschränkten Lebensraum und Kampfraum für die Menschen geworden ist. Sie kommen da nicht mehr heraus.

Wenn sich die Tänzer am Boden befinden, ihre Bewegungen schmerzverzerrt und zuckend sind, dann muss man an krepierende Fische denken. Das Leben draußen schwimmt in einer grauen Videoinstallation vorbei. Geschändete Landschaften, verlassene Wohngebiete, Industrieruinen, wie man sie bei Dessau sicher finden kann.

Die Choreografie hat drei Teile. Die Exposition, in der uns das Leben in den Szenen aus der Tiefe vorgestellt wird in Choreografien der Gruppe, Einzelner, in Duetten und verschiedenen Konstellationen. „Rasend vor Ohnmacht“ ist dieser Teil überschrieben, das drückt er aus mit der Komposition „Theatrum bestiarium“ von Detlev Glanert, 2004/2005 komponiert, deren schroffer Gestus des großen Orchesters mit verstörenden Orgelklängen regelrecht aufwühlt.

„Hoffnung“ heißt der zweite Teil, da steigt eben jener Pilger herab und die Situation verändert sich, die Bewegungen werden fließender, in den Dialogen mit Luka verändern sich die Menschen scheinbar, es entsteht so etwas wie ein Anflug von Harmonie. Die Musik dazu, Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ von 1899 in der Orchesterfassung entfaltet suggestive Wirkung, durchbricht aber den eher traurigen Grundgestus nicht.

„Endzeit“ der letzte, ganz knappe Teil, wurde zu Glanerts „Mahler/Skizze“ von 1989 choreografiert, die damit beginnt, dass Steine aufeinander geschlagen werden, dann in Klang und Rhythmik beim Einsatz eher ungewöhnlicher Instrumente wie Windmaschine, Blechen und Kuhglocken, apokalyptische Bilder beschwört. Der Pilger Luka hat das Asyl verlassen, übrigens über die Treppe, die für jeden der Nachtasylanten hinausführen würde, aber nur einer benutzt sie noch, der Schauspieler, indem er sich daran erhängt. Die Übrigen richten sich ein, nur brutaler, endgültiger, mörderischer.

Fünf Tänzerinnen und fünf Tänzer, dazu der Tänzer des Pilgers, gestalten die wesentlichen Rollen des Stückes. Manche Abhängigkeiten, Gemeinheiten, Betrügereien, Affären usw. sind auch bei Kenntnis der Vorlage abzulesen, was aber nicht unbedingt nötig ist. Die Grundstimmung vermittelt sich durch die Kraft und die Intensität der Tänzerinnen und Tänzer. Hohe Sprünge, irre Drehungen und krachende Stürze, Gewalt und Zärtlichkeit, verbitterte Vereinzelung, exzessive Sehnsucht nach Nähe, bilden spannende Gegensätze.

Jeder und jede im Einzelnen, in Begegnungen oder in der Gruppe, halten jene Spannung aufrecht, die sich von der großen Bühne her in den Saal vermittelt. Gänzlich anders als in der Verzweiflung des ersten Teils die Körpersprache im zweiten, wenn Luka hinabsteigt, Joe Monagham hat da ein weites, so faszinierendes wie einladendes Bewegungspotenzial und es ist verblüffend, zu welchem Wandel die Tänzerinnen und Tänzer bereit und fähig sind. Umso erschreckender ist dann der bestialische Schluss, aber in dieser Konsequenz wohl die eigentliche Wahrheit des Stückes.

Es wird großartig getanzt, eine Kompanie aus höchst individuellen Tänzerinnen und Tänzern, deren Authentizität der Choreograf nicht verstellt sondern nutzt. Und es wird spanend musiziert, zum Schlussapplaus kommt das ganze Orchester auf die Bühne und wird mit dem Dirigenten Wolfgang Kluge ebenso gefeiert wie Dessauer Kompanie mit Tomasz Kajdanski. Der Abend ist mit seinen 75 Minuten von der zeitlichen Dimension her kurz, von der ästhetischen Dimension her aber alles andere als schmerzlos.

Nächste Aufführungen: 5., 11., 17.06., 4.07., www.anhaltisches-theater.de

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