Den Ballett-Code knacken

„Spitze“ von Doris Uhlich bei „Tanz! Heilbronn“

Heilbronn, 17/05/2010

Während das Publikum in den Kammerspielen auf den Beginn der Performance "Spitze" wartet, kommt man ins Plaudern: "Als Kind war ich so steif. Meine Mutter schickte mich deshalb ins Ballett. Meine größte Befürchtung war, dass ich Spitzenschuhe anziehen muss", erzählt eine Zuschauerin. Wovor ihr graust, ist für viele Mädchen ein Traum, der nicht selten zum Berufsziel wird. Ballett, Inbegriff weiblicher Anmut und Grazie, der Spitzenschuh eine Projektionsfläche für romantisches Abheben in überirdisch schwerelose Feenwelten.

Die Wiener Performancekünstlerin Doris Uhlich hat sich ihren Kindheitstraum erfüllt. Obwohl sie nicht die Idealmaße mitbringt, schlüpft sie als erwachsene Frau in den Schuh aus rosarotem Satin. Die studierte Pädagogin für Modernen Tanz weiß: das Ballett ist eine andere Liga. Kinn hoch! Brust raus! Bauch rein! Mit Susanne Kirnbauer, einer 66-jährigen Ballerina - die 22 Jahre keine Spitzenschuhe mehr an hatte - und Harald Baluch, eine Generation jünger, aber wie die Kirnbauer auch als Choreograf tätig, stellt sie sich zwei Vollprofis. Das klassische Vokabular (von den fünf Positionen, Tendus und Piqués bis hin zur Arabesque) wird durchdekliniert. Schrittkombinationen wie aus der Pistole geschossen - was die beiden Ballettprofis quasi im Schlaf abspulen, hat sich die Uhlich mühsam angeeignet. Trippelschritte mit lieblichen Armwellen klappen prima. Doch am Blick, der Halt suchend am Boden klebt, sollt ihr die Spitzen-Amateuse erkennen.

Dramaturgisch begleitet Andrea Salzmann das ungleiche Trio. Ab und zu werden Fragmente aus "Don Quijote" und "Dornröschen" gesungen oder mit eingespielter Tschaikowsky-Musik geliftet. Ansonsten herrscht klammes Schweigen, gefüllt vom Klappern der harten Schuhe, schnaufendem Atem sowie dem Knacken erhitzter Scheinwerfer, die gnadenlos Speckröllchen, Wackelbalancen und Hängeknie (in der Attitude) ausleuchten.

Glanzvolle Vorderbühnenrituale im Kontrast mit Probendrangsal und Trainingsroutine, Machtmechanismen werden seziert, Körperbilder hinterfragt, Illusionen im schmucklosen Performanceraum demaskiert. Nur 50 Minuten braucht Uhlich um den Ballett-Code zu knacken. Eine grandiose Dekonstruktion, deren bewusst freiwillige Tragikomik vom Publikum mit Bravo-Rufen honoriert wird. Ein Muss für Ballettomanen wie für Skeptiker des akademischen Tanzes. Schade nur, dass die Produktion aus Österreich in Heilbronn nur einmal zu sehen war.

www.dorisuhlich.at / www.theater-heilbronn.de

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