Fremde Kulturen – westliches Leben

Ruhrtriennale: Akram Khan und Nacera Belaza auf der Suche nach dem Weg

Duisburg / Essen, 01/10/2010

So unterschiedlich der Tanzstil der beiden Beiträge für die Ruhrtriennale auch ist, Akram Khans Kreation „Vertical Road“ und Nacera Belazas „Le Cri“ faszinieren durch unübersehbare Parallelen. Kahn, in London geborener und lebender Sohn bangladesischer Eltern, und die aus Algerien stammende, in Frankreich arbeitende Belaza werden durch ihren Lebensweg zwischen verschiedenen Kulturen in kongenialer Weise dem Thema des diesjährigen Festivals „Wanderung – die Suche nach dem Weg“ gerecht. Beide beziehen sich auf die Riten der islamischen Derwischorden und vergegenwärtigen den Konflikt mit heutigem westlichen Lebensstil durch raffinierte Überlagerungen. Das Crescendo von Stille zu Lärm, Verstörungen des Spirituellen durch hektischen, brutalen oder auch banalen Alltag und Unmenschlichkeit vergegenwärtigen beide Choreografen durch Licht, Klang und Bewegung in ihrer jeweils eigenen, eigenwilligen künstlerischen Sprache.

In „Vertical Road“ deutet Khan die Maxime des Sufismus, die Kluft zwischen Mensch und Gott zu überwinden, in eindrucksvollen Bildern an. Angeregt wurde er durch ein Gedicht des Mystikers Rumi, Meister eines Derwischordens im 13. Jahrhundert im türkischen Konya: „Ich starb als Stein und wurde als Pflanze geboren... Ich starb als Tier und bin zum Menschen geworden... Nächstes Mal sterbe ich als Mensch... Was unvorstellbar ist, das werde ich sein.“ Eine Hommage auf Rumi scheint Khan mit der Hauptfigur zumindest anfangs anzudeuten: Mit wilden langen Locken und einem Kleid-artigen Gewand über schmalen Hosen zelebriert der göttliche „Meister“ sakrale Rituale, während seine ebenso gekleideten Jünger wie versteinert geduckt im Halbdunkel zu seinen Füßen kauern. Als sie sich endlich erheben (heutige, junge Menschen aus aller Welt), stiebt eine weiße Staubwolke auf. Gebieterisch gibt sich nun der Meister – einmal ist er strenger Patriarch, ein andermal Prophet. Aber auch als tyrannischer, grausamer Sektenführer tritt er auf oder animalischer Beherrscher seiner Vasallen, die seinen herrischen Gesten wie Marionetten folgen, Folter und Demütigung aushalten müssen, um sich schließlich von ihm zu befreien mit dem leichtfüßigen, kreiselnden Tanz von Liebenden. Seine Hybris hat den Gebieter zum Scheitern verurteilt. Als Außenseiter bleibt er einsam zurück. Die heilige Zahl sieben bildet ein optisches Skelett: aus sieben Regionen der Welt kommen die ebenso vielen grandiosen Tänzer, sieben ebenhölzerne Tafeln (ähnlich den Mosaischen Gesetzestafeln) stehen zur Anbetung aufgereiht. Kultische Rituale vom chorischen Tanz christlicher Klöster bis zu angedeuteten Derwischtänzen, Klänge zwischen sanftem Wind und Regen wechseln mit arabischer Musik und Orgelbrausen oder sich zum gewaltigen Crescendo steigernden Chorvokalisen (Musik: Nitin Sawhney). Die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord erweist sich in ihrer archaischen Morbidität einmal mehr als ideales Ambiente für Kahns faszinierende Bilder und Klänge aus fremden wie auch vertrauten Kulturen.

Als wär’s ein Stück von Anne Teresa De Keersmaker – so spartanisch nüchtern, abstrakt und scheinbar jenseits aller Gefühle beginnt Nacera Belazas „Le Cri“. Aber das knapp einstündige Duett auf Pact Zollverein, getanzt von der Choreografin und ihrer Schwester Dalila, eskaliert zu dem Aufschrei einer Verzweifelten auf der Suche nach Stille und innerer Harmonie inmitten ohrenbetäubenden Lärms von Straßenverkehr, Gebrüll und Amy-Winehouse-Musik. Aus dem Dunkel tauchen die beiden Gestalten auf, von fern ist Kinderlachen zu hören. Kaum merklich wiegen sich die Frauen zunächst, dann leicht mit den Armen schwingend. Immer größer werden die Armbewegungen. Wie schaufelnde Mühlenflügel kreisen sie kraftvoll. Immer heller beleuchten die Scheinwerfer sie. Immer lauter klingt das minimalistisch kurze Motiv aus einem arabischen Lied. Ein amerikanischer Folksong mischt sich ein. Abrupte, kurze Lichtpausen setzen Zäsuren in dem monotonen Bewegungsablauf, der dem Tanz der Derwische alles Ätherische, Folkloristische, Verzückende nimmt – nur die Idee bleibt. Tina Turner, Maria Callas und Amy Winehouse sind die emotionell hoch-aufgeladenen musikalischen Begleiter der drei weiteren nüchternen Tanzsequenzen, die ähnlich langsam beginnen und sich steigern. Urplötzlich flippen die beiden Frauen förmlich aus, vollführen wie von Sinnen einen Voodootanz in irrem Tempo. Für den Schluss wird die Bühnenrückwand fahl beleuchtet. Ein Cluster menschlicher Gestalten taucht schemenhaft auf. Immer schärfer fokussiert die Kamera auf die fünf Männer und Frauen. Kaum merklich bewegen sie sich zunächst wie zuvor die beiden Tänzerinnen, dann immer schneller. Heftiger werden ihre Gebärden. Fausthiebe treffen mitunter die Nachbarn. Panik bricht aus. Der Raum schrillt vom Chaos ohrenbetäubenden Lärms... Das Publikum applaudierte Kahns Truppe frenetisch, den Belaza-Schwestern verhalten. Beide Choreografien sind auch noch am Wochenende zu sehen.

www.ruhrtriennale.de / www.pact-zollverein.de / www.akramkhancompany.net

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