Im Zeittunnel von vierhundert Jahren

Marco Goeckes „Orlando“-Ballett nach Virginia Woolf

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Stuttgart, 05/06/2010

Virginia Woolfs Roman „Orlando. Die Geschichte eines Lebens“ beginnt 1586, da ist ihr Titelheld 16 Jahre alt. Und er endet 1928, da ist er, inzwischen zu einer Frau geworden, noch immer erst 36 Jahre alt. In dem Ballett von Marco Goecke, einem Abendfüller von 140 Minuten (eine Pause), lebt er zwar im Programmheft ebenfalls bis 1928 (dem Erscheinungsjahr des Romans) – in Wirklichkeit aber bis 1996 – das heißt so lange währt sein musikalisches Leben, an dessen Ende die „Heroes Symphony“ von Philip Glass nach David Bowies „Heroes“ (1996) steht. Auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper ist er aber immer noch erst 31 Jahre alt, Friedemann Vogel, Erster Solist und Superstar des Stuttgarter Balletts, der praktisch den ganzen Abend auf der Szene ist.

Ist er nun ein Mann oder eine Frau? Wohl beides – wie heutzutage manche jungen Leute, zum Beispiel David Bowie – oder Michael Jackson. Und so spielt Goecke mit der Geschlechtlichkeit seines Protagonisten/seiner Protagonistin im Zeitalter der Königin Elizabeth I., das ja das Zeitalter Shakespeares war, der es auch schon mit der Geschlechtlichkeit manches seiner Protagonisten nicht so genau nahm – siehe seine Rosalind, die im Ardenner Wald als Ganymed das liebenswürdigste aller Mädchen ist. Und Rosalind, verbirgt sich nicht dahinter der Orlando des Ariost, der sowohl ‚furioso‘ als auch ‚innamorato‘ ist?

Und so durcheilen wir den Zeittunnel von vierhundert Jahren in Turbogeschwindigkeit mit der selbsterneuerbaren Energie Goecke/Vogels, ohne uns lange aufzuhalten mit historischen Zitaten. Begegnen einzelnen Gestalten der diversen Zeitalter, Liebenden, Literaten, zwielichtigen Gestalten, Diplomaten, Kurtisanen, Halunken und Gaunern, spurten von Ort zu Ort. Immer beflügelt von der Musik Michael Tippetts, die die Dirigentin Sian Edwards und die Dramaturgin Esther Dreesen-Schaback so clever aus dem Oeuvre von Sir Michael zusammengestellt haben, dass der Abend der Entdeckung des Ballettkomponisten jenseits seiner noch zaghaften Versuche in seinen Opern gleichkommt. Ganz ohne Referenzen zu den Gesellschaftstänzen der Jahrhunderte – in einem reinen Fantasiestil, dem Michaela Springer durch ihre Hutkreationen – von den Beefeatern des Towers bis zum Wald von Birnam – ihre Akzente beisteuert. In Ganzkörperbewegungen, in denen die Arme wie Pürreequirle durcheinanderwirbeln.

Welch ein Panorama der Figuren, die den Tänzern die vielfältigsten Ausdrucksmöglichkeiten abverlangen – in Einzelgestalten (Alicia Amatriain, Katja Wünsche, Sébastien Galtier, Damiano Pettenella, Douglas Lee, William Moore …) sowohl als auch in schier endlosen – aber niemals zu langen – Pas de deux und brillant harmonisierten Corps-Formationen. So fantastisch, dass es der lebhaften Anstrengungen des Publikums bedarf, sie zu identifizieren (ich habe auch beim zweiten Mal nicht ergründen können, wen denn die drei quasi-Zwillingsschwestern von Josephine Baker allegorisieren). Und nirgends das mindeste Klischee – wie es beispielsweise das Frostbild mit den Schlittschuhläufern nahelegt, bei dem jeder andere Choreograf auf die „Patineurs“ von Ashton verfallen wäre. Mit der längsten Kussszene, die je in einem Ballett vorgekommen ist – so lang, dass sie wohl ins Guinness Buch der Rekorde aufgenommen wird.

Ein Ballett, das ein neues Zeitalter des Handlungsballetts einleitet! Nach dem Stuttgarter Kanon von „Romeo“, „Onegin“ und „Widerspenstige“ nun also die Ankunft der Post-Cranko-Generation – mit einem Friedemann Vogel als Tänzer-Akteur auf dem Welt-Niveau seiner Haydée-Cragun-Ahnen! Oder die Fortschreibung Virginia Woolfs bis in die unmittelbare Gegenwart.

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