Ausnahmsweise höchstpersönlich

Zum vierten Male: Marco Goeckes „Orlando“

oe
Stuttgart, 17/06/2010

Da auch im zehnten Jahr des Erscheinens ein paar „User“ immer noch nicht kapiert haben, dass es sich beim koeglerjournal nicht um eine Kritik handelt, sondern um das, was man heutzutage ein Blog (Weblog) nennt, muss ab und zu daran erinnert werden, dass es sich um ein persönliches Statement handelt, das durchaus auch eine Kritik enthalten kann, aber sich von einer „seriösen Kritik“ denn doch wesentlich unterscheidet.

Im heutigen Fall sogar um ein höchstpersönliches! Und dazu muss ich etwas weiter ausholen. Meinen ersten „Tanzabend“ erlebte ich, als ich im Wintersemester 1945/46 an der Universität Kiel studierte: da tanzte Palucca in einem Kinosaal, und ich war gerade mal achtzehn Jahre alt. Das ist nun 65 Jahre her, also praktisch zwei Generationen. Ich weiß nicht, wie oft ich seither im Ballett war – aber jedenfalls ist es mir jetzt zum ersten Mal passiert, dass ich einen neuen Ballettabend an sechzehn Tagen viermal hintereinander gesehen habe: Marco Goeckes „Orlando“. Und ich muss zugeben, dass ich eher verwirrter bin als bei der Premiere am 2. Juni –, und dass ich nur beim genauen Studium des Programms ahne, wer denn nun eigentlich wer ist. Denn gelesen habe ich den Roman von Virginia Woolf vor ungefähr dreißig Jahren – mit nur sehr vagen Erinnerungen an die einzelnen Personen außer ein paar Protagonisten. Seither habe ich wohl den Film gesehen, aber das ist nun auch schon wieder über ein Dezennium her.

Und so ordne ich den zweiten Mann am Kartentisch der Figur des Nicholas Greene zu und den Mann mit dem extravaganten Hut der Erzherzogin Harriet Griselda, später dann den Rotbehosten der Figur, die da schlicht Konstantinopel heißt – und bin mir durchaus nicht sicher, mich nicht geirrt zu haben. Und der Tod? Klarer wird‘s dann bei dem Paar, das als London firmiert. Und ziemlich hoffnungslos strande ich bei den Gruppen – bei den spastisch Zuckenden gleich am Anfang und besonders bei den Männern mit den Büschen auf dem Kopf (die mir wie Delegierte aus dem Macbeth-Wald von Birnam erscheinen). Ich finde, dass Goecke da zu viel an Stoffkenntnis voraussetzt. Das Komische daran ist, dass ich das zwar bedauere, aber dass es mich nicht ernstlich stört, da ich vollauf damit beschäftigt bin, meine Fantasie spielen zu lassen, die Einfallskraft der Choreografie zu bestaunen, mich von der Bildfülle überwältigen zu lassen, die fabelhafte stimmungsadäquate Auswahl der ausgewählten Musikstücke von Tippett und Glass zu bewundern (und bei der Beschäftigung mit Tippett festzustellen, dass Neumeier seinerzeit seine „Hamlet“-Skizzen zu Tippetts „Connotations“ choreografiert hat). Dass ich also die ganzen 140 Vorstellungsminuten total gefesselt war und bin. Und das beim vierten Besuch – einer üblichen Abo-Vorstellung vor zwar nicht ausverkauftem, aber doch sehr gut besuchtem Haus, in der es keinen einzigen Zwischenbeifall, hinterher dafür jedoch einen umso länger anhaltenden Schlussapplaus gab.

Und das war nun also an diesem Abend die komplett ausgetauschte Alternativbesetzung – ohne die mindeste Qualitätseinbuße. Mit William Moore in der Titelrolle, den man wohl seit seinem „Äffi“ von 2006 (da war er offenbar gerade 20 Jahre alt) als Goecke-Favoriten bezeichnen darf. Er ist lockerer, jungenhafter als Friedemann Vogel, der als Orlando wie eine von Apollo speziell für dieses Stück geschaffene Kunstfigur anmutet. Hat einen fast lausbübischen Charme und bewältigt die komplizierten technischen Arrangements dieser Rolle mit nonchalanter Bravour. Großes Staunen, wie die Kompanie das große Rollenaufgebot dieser Produktion genauso elegant exekutiert wie die Premierenbesetzung – nun also mit Elizabeth Mason als Köngin Elizabeth, Myriam Simon als Prinzessin Sascha, Roland Havlica als Nicholas Greene, Arman Zazyan als Erzherzogin Harriet Griselda und Matthew Crockard-Villa (den lese ich immer als Villella) als Shelmerdine und all die anderen – inklusive der fabelhaft koordinierten Motionen der diversen Gruppenformationen, die ja fast wie Roboter agieren. Habe mir jetzt vorgenommen, in den bevorstehenden Sommerwochen den Roman nochmals zu lesen und mir den Film mit Sally Potter anzusehen, um doch noch ein bisschen mehr von den Aktionen zu verstehen, damit ich dann bei meinem fünften „Orlando“ am 9. Februar 2011 (so ich dann noch lebe) die Rätsel dieser aufregenden Produktion noch besser ergründen kann.

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