Eine Ballett-Uraufführung, die es in sich hat

Marco Goecke choreografiert „Orlando“ von Virginia Woolf

oe
Stuttgart, 03/06/2010

Diesmal muss ich passen! Und das liegt daran, dass ich eine halbe Stunde zu spät ins Theater kam und darum den ersten Teil versäumte. Weswegen das gewohnte koeglerjournal hier nun bis zur zweiten Vorstellung am Samstag warten muss. Gleichwohl ein paar Bemerkungen vorweg. Eine Ballett-Uraufführung, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat – nicht in Stuttgart noch sonst irgendwo auf der Welt. Fünfzig Jahre nach John Cranko – in einer Zeit, in der die Weltordnung gründlich durcheinandergeraten ist: der Koch-Rücktritt, der Köhler-Rücktritt, die Euro-Krise, die Ölkatastrophe im Golf von Mexico, die Sparsamkeits-Zwangsdebatte … Und da tanzt das Stuttgarter Ballett – und tanzt und tanzt und tanzt! Und reibt sich an einem der großen Stoffe der Weltliteratur. In einer Choreografie, die so ganz anders ist als alles, was wir von „Romeo und Julia“, „Onegin“ und der „Widerspenstigen“ gewohnt sind. Als hätte einer das ABC der Choreografie neu erfunden, eine Choreografie, die statt aus Pas aus lauter Pixeln zu bestehen scheint: klein, kleiner und noch kleiner – schnell, schneller und noch schneller.

Das ist gewöhnungsbedürftig und erfordert eine Neuorientierung des Sehens, ganz zu schweigen vom Lesen dessen, was es zu bedeuten hat. Orientierungshilfe liefert allenfalls die Handlungsangabe im Programmheft: ein Leseübungstext, der jedem Vorstellungsbesucher zu studieren dringend empfohlen wird. Die Stuttgarter Tänzer sind da dem Publikum um Längen voraus – als wenn sie das Ballett neu erfunden hätten. Erst kamen die Sowjetrussen mit ihren Abendfüllern auf ihren Gastspielen im Westen. Die beeindruckten den jungen John Cranko in London kolossal. Und der ging hin und sagte sich, was die können, das können wir auch – aber moderner, stringenter und verschlankter. Und hinterließ bei seinem Tode das Erbe seinen Stuttgartern, die damit in der ganzen Welt Furore machten. Fünfzig Jahre lang, bis ein Marco Goecke kam und dem großen Handlungsballett neue Perspektiven erschloss. Mit einem Superstar aus dem eigenen Laboratorium namens Friedemann Vogel, der nicht nach Moskau fahren muss, um sich den Prix Benois zu ertanzen – der seinen Prix Benois hier ertanzt, im Stuttgarter Schlossgarten am Eckensee. Weiß Stuttgart, wie gut es aufgestellt ist? Das Premierenpublikum immerhin schien es zu ahnen. Und feierte SEINE Stuttgarter, die an diesem Abend einmal mehr bewiesen: keine Krise beim Stuttgarter Ballett, sondern das klare Bekenntnis: Yes, We Can!

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