Das hohe Lied der Klassik und seine moderne Exegese

Dritte Ballettwerkstatt dieser Spielzeit in Hamburg

Hamburg, 10/05/2010

Mit dem Motto der 3. Ballettwerkstatt in dieser Spielzeit hat Hamburgs Ballett-Intendant nicht nur seinen Dramaturgen Kopfzerbrechen bereitet: „Klassik und Tradition – Mittel der Kreation“. Was, bitte, soll der geneigte Zuschauer sich darunter vorstellen? Was ist Klassik, was Tradition? Wodurch definiert sich klassisches Ballett? Durch Spitzenschuhe? Tütü? Schritte? Was sonst? Was meint ein Tänzer, der – so ließ John Neumeier durchblicken – das Hamburg Ballett verließ, um „in einer klassischen Kompanie“ zu tanzen? Was glaubt er, dort zu finden? Und wohin geht er? In ein Museum?

Um hier Klarheit zu schaffen, griff John Neumeier zu Beginn erst einmal tief in die Kiste der Tanz-Historie. Das heutige Ballett, so erläuterte er, habe seine Wurzeln im 15. Jahrhundert, als die Aristokratie Elemente aus den Volkstänzen übernommen, in höfische Tänze transferiert und „gezähmt“, mithin verlangsamt, habe. Ein weitläufiges Regelwerk wurde erstellt, wie welche Tänze auszuführen sind – und das nicht nur zur eigenen Freude, sondern als Rang- und Statussymbol in der Hierarchie der Stände. Damit das Ganze gut aussieht, wurden Tanzmeister engagiert – die Ahnen der Ballettmeister von heute. Im 16. Jahrhundert dann kam erstmals der Begriff des Balletts auf: 1573 in Form des „Ballet aux Ambassadeurs Polonais“, übrigens exakt 400 Jahre, bevor Neumeier nach Hamburg kam, wie eben jener launig anmerkte. Katharina di Medici (1519-1589) brachte ihre eigenen Tanzmeister mit, und der französische Hof führte Tanzeinlagen als Bereicherung von Poesie und Schauspiel ein. Was wenige wissen: König Ludwig XIV. war ein Tänzer – vor allem in „Cassandra“ 1651, aber auch in „Ballet de la Nuit“ als Sonnengott, worauf sein Titel als „Roi du Soleil“ mit zurückzuführen ist. 1661 wurde in Paris die „Académie Royale de la Danse“ gegründet – die Wiege der heutigen Kompanie der Pariser Oper. Dort wurden die Regeln der fünf Positionen in Auswärtsstellung und erste Ansätze von Ballett-Technik definiert. Diese Elemente haben sich im Lauf der Jahrhunderte bis heute über alle Welt ausgebreitet und weiterentwickelt.

Nach so viel Einblick in Traditionen ging es dann sehr konkret zum klassischen Anschauungsunterricht in Form von zwölf einzelnen Stücken quer durch die Jahrhunderte, vorwiegend Soli oder Pas de Deux. Den Anfang jedoch bildete die Schule des Hamburg Ballett mit dem von Kevin Haigen choreografierten „Jubiläumstänzen“, einer bereits theatralisierten Form des klassischen Tanzes, die über die Demonstration von Technik hinausgeht. Es folgte ein Feuerwerk von klassischen Paradestückchen: Hélène Bouchet mit einem schwerelosen Solo aus „La Sylphide“, Lucia Solari und Silvano Ballone mit einem dahingehauchten Pas de Deux aus dem 2. Akt von „Giselle“ – beides Beispiele dafür, wie Tanz Überirdisches darstellen und die Illusion der Schwerelosigkeit vermitteln kann.

Als Kontrast dazu folgte der Grand Pas de Deux aus „Don Quichotte“, ein – wie Neumeier nicht ohne Süffisanz anmerkte – „Symbol für zirzensische Macho-Virtuosität“. Egal, in welchen Ballettsaal man auf der Welt komme und auf junge Tänzer treffe, man sehe sie ständig immer nur Pirouetten üben: je mehr und schneller, desto besser. Technik jedoch, so betonte Neumeier, diene der Kontrolle, wie man etwas mache, und nicht wie oft. Mayo Arii und Alexandre Trusch, beides blutjunge Tänzer, zeigten dieses „Wie“ und zelebrierten dieses Paradestückchen mit fulminanter Technik und Tanzfreude zugleich.

Zwei Petipa-Soli – des Prinzen aus „Dornröschen“ (fein ausgearbeitet von Marcelino Libao) und eine Variation aus „Paquita“ (respektabel getanzt von der Hamburger Elevin Maria Baranova) – zeigten dann Klassik in Reinkultur. Ebenso ein Solo aus dem „Grand Pas Classique“, das Victor Gsovsky für die legendäre Yvette Chauviré choreographiert hat – am 9. Mai getanzt von deren Enkelin im Geiste, denn Hélène Bouchet, die hier aufs Feinste gezeigt hat, was Klassik à la Française bedeutet, ist eine Schülerin der Meisterschülerin der Chauviré! Klassik in der Originalversion gebe es heute jedoch nicht, betonte Neumeier. Denn Tanz wurde damals – anders als die Musik mit Noten in Partituren – nicht oder nur ansatzweise dokumentiert. Viel wichtiger war das Weitergeben von Mensch zu Mensch. So sind alle Interpretationen von „Klassikern“ miteinander verwandt und doch sehr unterschiedlich – was Neumeier augenfällig am Part der Odette aus „Schwanensee“ erklärte. Silvia Azzoni zeigte eine Variante, Anna Laudere eine andere, strenger russisch geprägte, wurde sie doch gecoacht von Irina Jacobson, die noch von Agrippina Waganowa höchstselbst (1879-1951) in diese Version eingeweiht wurde.

Da geht es um filigrane Details – z.B. ob der Fuß beim Ansatz des Rond de Jambe en l’air der Schwanenprinzessin zu Beginn etwas „geschüttelt“ wird oder nicht – laut Jacobson sei das Schütteln unverzichtbar, symbolisiere es doch, dass der Schwan dem Wasser entsteigt und sich die Tropfen aus dem Gefieder schüttelt... Silvia Azzoni zeigte dann noch dieses Kleinod der klassischen Ballett-Literatur aufs Feinste ausgearbeitet.

Zwei großartige Beispiele von Choreografien des Pioniers der modernen Klassik, George Balanchine, rundeten das Spektrum dann in die Moderne hinein ab: Anna Polikarpova mit einem grandios zelebrierten Solo des Smaragds aus „Jewels“ und Anna Laudere mit einem Solo der Sirene aus dem „Verlorenen Sohn“ (wobei sie allerdings das dominant Bezwingende, das das Dämonische dieser Hexe erst ausmacht, arg vermissen ließ). Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass auch klassisches Ballett nur lebt, wenn es auch von innen heraus durch die Persönlichkeit der Tänzerin beseelt wird.

Aleix Martinez von der Theaterklasse der Schule und ab der nächsten Spielzeit als Eleve engagiert, zeigte noch eine „Gigue“ aus Neumeiers Nijinsky-Adaptation „Vaslaw“, bevor ein Klassiker der besonderen Art einen fulminanten Schlusspunkt unter einen höchst lehrreichen Sonntagvormittag setzte: „Opus 100 – for Maurice“, von Neumeier zum 70. Geburtstag von Maurice Béjart choreografiert, seinerzeit von Ivan Liska und Kevin Haigen getanzt, dann an Ivan Urban und Sascha Riabko weitergegeben, und nun von Peter Dingle und Kiran West (der sich damit einmal mehr als Solist empfiehlt) übernommen. Ein exzellentes Beispiel, wie Klassik und Tradition Mittel der Kreation werden können – wenn sie so von Liebe getragen sind und mit Hingabe getanzt werden.
 

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