Begeistertes Publikum bei TanzArt ostwest 2010

23 internationale Gruppen waren am Pfingstwochenende dabei – Gespräch über die Vernetzung der Tanzszene in Hessen

Gießen, 27/05/2010

Nach acht Jahren TanzArt ostwest am Gießener Stadttheater kann man von einem etablierten Format sprechen, das TanzArt-Gründer und -Leiter Tarek Assam aus Halberstadt mitbrachte und an seinem neuen Wirkungsort Gießen installierte. Ein vor 14 Jahren gegründetes Tanzfestival, das deutschlandweit stattfindet, bei dem es um Vernetzung geht und das auf dem Prinzip des gegenseitigen Austauschs beruht. Dadurch ist es kostengünstig, was vor allem in der Anfangsphase ein wichtiges Argument für Intendanten von Staats- und Stadttheatern war; darauf wies Irene Schneider hin, langjährige Ballettdirektorin in Magdeburg und Mitstreiterin aus der Anfangszeit, die für die Tanzgala in Gießen die Moderation übernommen hatte.

In diesem Jahr waren 23 Ensembles beteiligt, so viele wie nie zuvor, und das Festival hat sich über Europa hinaus geöffnet. Dadurch war TanzArt ostwest 2010 wirklich international, dennoch bedeutet das in dieser Szene, dass es eine Art Familientreffen ist. Davon bekam auch das Gießener Publikum eine Ahnung an diesem spannenden Tanz-Pfingsten.

Auf der sonntäglichen Gala waren vor allem Stücke von Kompanien an festen Theatern zu sehen, wobei die ostdeutschen Bühnen eher (neo)klassisches Ballett (Chemnitz, Dresdener Semperoper, Gera, Greifswald/Stralsund) beisteuerten und die polnischen Beiträge sich vom Üblichen stark unterschieden durch frechfreie Fröhlichkeit (Studio of Physical Theater Bytom/Warschau) und athletische Körperlichkeit (Kielce Dance Theater). Nordhausen bot eine hingebungsvolle „Let it be“-Interpretation, Magdeburg hatte mit Anett Münch eine bereits preisgekrönte Absolventin seiner Theaterballettschule geschickt. Aus Ulm war fast das komplette Ensemble angereist, der neue Direktor Roberto Scafati stellt einen Ausschnitt aus seiner Produktion „Warten auf ...“ vor. Und die Gießener Tanzcompagnie wusste mit einem Quartett aus „Clandestino“ zu französischer Musik zu überzeugen.

Außergewöhnlich waren eine israelische (Lior Lev) und eine taiwan-chinesische (Chen Wu-Kang) Choreographie – beide waren möglich geworden dank neuer Mitglieder der Gießener Tanzcompagnie. Ekaterine Giorgadze, seit „Cassandra“ dabei, zeigte mit Christopher Basile ein ideenreiches, schnelles und witziges Duett. Hua-Bao Chien, der zwei Abende zuvor in „Gustav Nachtigal“ erstmals in Gießen zu sehen war, zeigte ein Solo des Horse Dance Theatre (Taiwan): ein filigraner Tanz zu einem Klavierstück von Johann Sebastian Bach, das ganz ohne die üblichen Sprungkraftbeweise des klassischen Balletts auskam.

International ging es auch an den drei Abenden auf der kleinen Bühne im Theater im Löbershof (TiL) zu, am Freitag waren dies Beiträge aus Spanien, Kanada und Italien. David Finelli und Melanie Venino, die bereits mit dem Auftakt eine Woche zuvor in den Lagerräumen der Mittelhessischen Druck- und Verlagsanstalt große Zustimmung erhalten hatten, stellten als Compania Aqua Alta ihr Stück „Heaven“ vor. Vom paradiesischen Zustand der Nacktheit erklommen sie spielerisch den Weg in das von Regeln bestimmte Leben einer Gesellschaft. Wie üblich waren zwei Techniker aktiv am Bühnengeschehen beteiligt. Ein spritziges Männer-Duo (Science Friction Productions) aus Kanada zeigte ein Schachspiel der anderen Art, das in einen Zweikampf mit dem Alter Ego mündete; die Choreografie stammt von Shannon Moreno. Die Breathing Art Company, ein Quartett aus Bari, beschloss den Abend mit Wunschträumen und Desillusionierungen der Liebe. Durchgespielt wurde das Braut-Motiv von romantisch-verträumt über elegant-modern bis zur pubertär-aggressiven Verweigerung; die Rolle des Mannes blieb marginal.

Der Sonntagabend war lang und heiß. Wie in geheimer Verabredung arbeiteten die meisten Beiträge mit Texten, und es war der Abend der Choreografien von Gießener Ensemblemitgliedern. Keith Chin etwa hatte mit vier seiner Kollegen eine temperamentvolle „Erkundung des Konzepts Familie“ umgesetzt, bei dem sich munter gekabbelt wurde. Antonia Heß und Schauspielkollege Christian Fries unternahmen eine Reise zwischen Tag und Traum, Svende Obrocki zeigte ein kraftvoll-witziges Solo zum Thema Verwurzelung. Sven Gettkant, einstiger Tänzer in Gießen, brachte aus Eisenach eine Choreografie für drei Kollegen mit, die dem Jodeln gewidmet war: ein fröhlich unbeschwerter Beitrag zwischen alpenländischem Liedgut, Schuhplattler und Pygmäen-Rhythmik.

Die Spanierin Roser Lopez Espinosa zeigte ihr preisgekröntes Stück „Concau“, in dem sie ihren Körper wie eine Maschine neu erfindet. „Paradeiser“ (Paradeiser Productions Münster) entführte in eine kafkaeske Phantasiewelt. Zu live gesprochenen Texten aus dem Roman „Amerika gibt es nicht“ (Daniele Benati) wurde eine Atmosphäre des Unheimlichen erzeugt durch Projektionen auf Bildschirm-Paravents. Dort führten die Silhouetten der drei Tanzenden ein Eigenleben, sie gaben den realen Personen ihre Aktionen vor. Ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Literatur und Tanz, vor allem eine inhaltlich wie ästhetisch überzeugende Einbindung moderner Technik.

Das sympathische Duo aus London, die Israelin Hagit Yakira und der Japaner Takeshi Matsumoto, zeigte das Miteinander eines Paares zwischen zärtlicher Behutsamkeit, gegenseitiger Überforderung durch hohe Ansprüche und selbstironischer Brechung. Zu swingender Jazz-Musik fanden sie immer wieder zueinander. Die natürliche Ausstrahlung der beiden war geradezu heilsam angesichts der vielen Stücke um Einsamkeit und Verzweiflung. Am Montag zeigten sie noch ihr neuestes Stück „Oh Baby“, das eine ähnliche Thematik hat und immer zu signalisieren scheint: Leute, nehmt euch nicht so wichtig, genießt das Leben.

Romain Thibaud Rose (Frankfurt) erzählte eine Geschichte aus der Kindheit, bei der das (Französisch-)Sprechen nur eingangs eine Rolle spielt, dann von weich fließenden Körperbewegungen und erstaunlichen, lautmalerischen Geräuschen übernommen wurde. Ansonsten waren an diesem letzten Tanzabend vor allem langjährige TanzArt-Teilnehmer mit ihren neuen Produktionen zu erleben: Guido Markowitz (Köln) hatte ein junges „Duo“ geschickt; die Compagnie Irene K. (Eupen/Belgien) war mit drei Tänzern und einer Opernsängerin (Marie-Laure Fiaux) gekommen, deren schön klingender Mezzosopran auf die im Geschlechterkampf und Alltagshektik verstrickten Tänzer beruhigend zu wirken schien; die Alpha Group Graz bot mit „Last Fragments“ eine echte Premiere, Choreograph Darrel Toulon war eigens mit angereist. Allerdings geriet der Abschluss der TanzArt 2010 durch dieses Stück um Abhängigkeiten etwas schwermütig.

Zur TanzArt ostwest gehört in Gießen seit den Anfängen an die Integration der Hochschulen, Studierende erhalten hier eine Plattform am Samstagnachmittag. In diesem Jahre zeigte eine Absolventin des recht jungen Aufbaustudiengangs Choreographie und Performance des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft (IAT) an der Justus-Liebig-Universität Gießen ihre Arbeiten. Lina Lindheimer hatte für „Wie Sie, wenn Sie...“ Menschen gebeten, Worte darzustellen und dies gefilmt. Mit großem technischem Aufwand erschien das gestaltete Ergebnis auf sieben hängenden Bildschirmen. Live-Aktion war wenig, erst zum Ende hin traten einige der Befragten neben ihre Bildschirm-Alter Egos und erzählten ihre Geschichten.

Auf Anregung aus dem IAT (Prof. Gerald Siegmund) war am Montagnachmittag zu einer Gesprächsrunde gebeten worden, in der es um die Vernetzung der Tanzszene in Hessen gehen sollte. Im Zentrum stand die Frankfurter Situation, wo die Podiumsgäste herkamen. Dieter Buroch, Mitbegründer und Leiter des Künstlerhauses Mousonturm, bescheinigte der hessischen Kulturpolitik jahrzehntelanges Versagen, was die Förderung der freien Szene angeht, und bedauerte, dass das Beispiel Mousonturm in den 80er Jahren nicht zu weiteren Gründungen in anderen Städten führte. Es ist wohl ein Phänomen der Großstädte geblieben. Jan Deck von LaProf (= Landesverband professioneller freier Theater in Hessen) unterfütterte das Gesagte mit Zahlen, begründete darüber, warum die an hessischen (Hoch)Schulen ausgebildeten Kräfte alle abwandern, dorthin wo es Initiativ- und Projektförderungen gibt. Kristina Veit und Nina Vallon berichteten von der Neugründung des ID-Frankfurt (= Independant Dance, Raum Frankfurt), bei der es mit hohem Engagement um die Vernetzung und Förderung der freien Szene geht.

Ein Festival für Kurzchoreografien erfährt in diesem Herbst eine Zweitauflage. Tarek Assam wies auf das Networking hin, das TanzArt ostwest seit 14 Jahren leistet: was als Austausch zwischen den Stadttheaterensembles aus Ost und West begann, integrierte zunehmend die freie Tanzszene, zumindest die etablierte, „denn Verlässlichkeit ist Voraussetzung, wenn man so etwas plant“, so Assam. Es bleibt spannend in der freien Tanzszene Rhein-Main, die derzeit im Umbruch ist. Soweit war man sich einig.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern