Von der Kunst, Widersprüchliches in sich zu vereinen

Ballett-Werkstatt und Premiere der Wiederaufnahme von „Sylvia“ in Hamburg

Hamburg, 27/04/2009

„Sylvia“ ist ein Ballett mit großer Tradition – in der Choreografie von Louis Merante und mit der Musik von Léo Delibes war es 1876 das Erstlingswerk in der damals neu gebauten Pariser Oper im Palais Garnier und markiert den Wechsel vom romantischen Ballett zur Moderne, von der ätherischen, elfengleichen Tänzerin in „La Sylphide“ zur kraftvollen emanzipierten Frau. Und so bat Hamburgs Ballett-Intendant zu Beginn der Werkstatt am Sonntagvormittag erst einmal DIE Hamburger Sylphide, Hélène Bouchet, zu einem kurzen Solo auf die Bühne. Erst dann stand das Subjekt der Werkstatt selbst (und auch der Premiere am Abend davor) im Mittelpunkt: „Sylvia“.

Die Mythologie um die Figur Sylvia hat viele Choreografen inspiriert und das Stück selbst darf als Katalysator für den modernen Tanz schlechthin gelten – denn ohne die Neuinszenierung am Mariinsky-Theater in St. Petersburg, die ein gewisser Serge Diaghilew im ersten Jahr des 20. Jahrhunderts realisieren sollte, hätte es die Ballets Russes wohl nie gegeben. Diaghilew hatte seinerzeit höchst eigenwillige Pläne für die Gestaltung des Stücks, die der Direktion äußerst missfielen. Sie setzte den Aufmüpfigen kurzerhand vor die Tür und bahnte damit dessen Wechsel in den Westen nach Paris und somit der Gründung der Ballets Russes den Weg. In dieser Funktion passt „Sylvia“ wunderbar in den Spielplan des Hamburger Balletts zwischen „La Sylphide“ und „Hommage aux Ballets Russes“ (die im Juli zu Beginn der Ballett-Tage Premiere haben werden).

John Neumeier, der als junger Tänzer in London in der Ashton-Fassung von „Sylvia“ selbst mitgetanzt hatte, brachte seine eigene, höchst moderne Neufassung am 30. Juni 1997 zuerst in der Pariser Oper, die mehrere verschiedene Fassungen des Traditionswerkes im Repertoire hat, auf die Bühne, ein halbes Jahr später dann auch in Hamburg. Er befreite das Stück von allem schwülstigen Ballast und verlieh ihm zeitgenössische Bezüge. Anstelle des nach seinen Worten „absurdesten Libretto, das es je für ein Ballett gegeben hat“, mit einer „kompliziert-verschachtelten, komplett unlogischen Handlung voller sinnloser Verwandlungen und Verkleidungen“, greift er eines der wichtigsten Themen von heute auf, das wohl jeden von uns schon einmal beschäftigt hat: die Schwierigkeit, Widersprüchliches miteinander zu vereinbaren und in die Persönlichkeit, in das Leben zu integrieren. Widersprüchliches wie Eigenständigkeit und Hingabe, Ehrgeiz und Gelassenheit, Kraft und Schwäche, Draufgängertum und Schüchternheit. Choreografisch wollte er, so sagt Neumeier selbst, „eine möglichst große Distanz zur eingängigen und stellenweise nur allzu bekannten Musik Léo Delibes erreichen“, ähnlich wie in seinem „Nussknacker“, der wie „Sylvia“ eine neue Choreografie im Stil der Zeit darstellt. Was Neumeier in der Werkstatt dazu verleitete, zur Illustration einige Posen aus dem Blumenwalzer zu zeigen, wofür sich Stephanie Minler – für diesen Mut der Spontaneität vom ganzen Ensemble hinter der Bühne beklatscht! – spontan bereit erklärte. Für solche Improvisationen lieben die Hamburger ihren Ballett-Intendanten besonders!

Neumeier konzentriert die gesamte Handlung von „Sylvia“ in drei Bildern: 1. „Die Kunst des Bogenschießens“, die Diana als Göttin der Jagd mit ihren Jägerinnen im heiligen Hain unter dem Sichelmond trainiert. 2. „Im Reich der Sinne“, die mondäne, dekadente, aber auch lustvoll gelebte Welt der Sinnlichkeit, in die Sylvia von Eros in Gestalt des schönen Orion entführt wird, damit sie ihre Liebesfähigkeit erkennt und lebt. 3. „Wintersonne“, die Wiederbegegnung von Sylvia und Aminta nach vielen Jahren. Neumeiers „Sylvia“ ist die Geschichte von der Unwiederbringlichkeit verpasster Gelegenheiten. Von der Gefahr, blind zu werden für das Wesentliche und etwas Wichtiges zu versäumen, wenn man sich zu sehr einem einzigen Ziel verschreibt. Denn Sylvia will unter den zehn Jägerinnen, die kraftvoll und ungezügelt amazonenhaft über die Bühne fegen, immer herausstechen: durch Ehrgeiz, Können, Kraft und Entschlussfreudigkeit. Nie ist sie sich selbst gut genug. Sie will die beste sein, die stärkste, die klügste, die Nummer eins. Als in dieses Getümmel Aminta eindringt, der Schäfer, ein schüchterner, naturverbundener Träumer, sind beide schlagartig voneinander fasziniert – wie gegensätzliche Pole ziehen sie einander magnetisch an. Zwei Welten prallen aufeinander: hier die vom Ehrgeiz nahezu zerfressene Frau, dort der Mann, der ihr mit Respekt begegnet, voller Liebe, und doch scheu, zurückhaltend, unsicher, zu keinerlei Machtkampf fähig. In der Begegnung mit Aminta entdeckt Sylvia andere Seiten in sich – Liebesfähigkeit, Hingabe, Zärtlichkeit –, aber sie erschrickt davor, sie rennt weg vor diesen Schmetterlingen in ihrem Bauch, die sie schwach machen, über die sie keine Kontrolle hat, die sie verwirren. Sie kann nicht aus ihrer Haut, weist Aminta zurück und kehrt in den Kreis der Gefährtinnen und zu Diana zurück. Es bedarf des Gottes Amor, der in Gestalt des schönen Orion zu ihr kommt, um sie in die Welt der Sinne einzuführen, um ihr die Augen zu öffnen, dass es noch mehr gibt im Leben als Jagen und Bogenschießen, und dass es noch andere Ziele gibt, als stets die Beste, Schönste, Stärkste zu sein. Nur: Als sie das weiß, und schließlich – viele Jahre später – Aminta wieder begegnet, ist es zu spät. Das Eingeständnis der gegenseitigen Liebe birgt ebenso die Erkenntnis, dass sich diese Liebe nicht mehr ins Heute transferieren lässt. Sie ist verloren, sie bleibt ungelebt.

John Neumeiers „Sylvia“ bietet jeder Tänzerin in der Titelrolle ein phantastisches Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten – wer je 1997 Heather Jurgensen als Sylvia und Anna Polikarpova als Diana gesehen hat, weiß das. 2009 nutzt Silvia Azzoni ihre Chance aufs Feinste und übertrifft alle Erwartungen. Wie sie ihre Pfeile abschießt – das ist Perfektion pur, jeder trifft mitten ins Schwarze. Wie sie dann aber auch durch die Begegnung mit Aminta diese anderen Seiten in sich freilegt und gleichzeitig davor zurückschreckt, wie sie die Sinnlichkeit entdeckt, das Leben, das so viel mehr ist als Kämpfen und Zielen und Schießen, wie sie dann Aminta ihre Liebe zeigt und zum Schluss doch stolz und freudig ohne ihn in ihr eigenes Leben geht, das ist große Kunst. An Ausdruckskraft nimmt es hier so leicht kaum eine andere Tänzerin mit ihr auf. Vor allem im Wiedersehens-Pas-de-deux im Dritten Bild entwickelt sie zusammen mit Alexandre Riabko als Aminta eine atemberaubende Spannung, einen Gleichklang, eine Einheit, ohne die Individualität zu verlieren, dass jedes Husten, jedes Rascheln, jede Unruhe im Publikum erstirbt. Es sind Sternstunden des Balletts, wenn Solisten in einem Pas de deux ein solches gemeinsames Atmen gelingt, wenn zwei Körper im Dialog zu einer Einheit werden. Silvia Azzoni hat die seelische Tiefe, vor allem aber die unendliche Liebe zum Tanz und gleichzeitig die Bescheidenheit und die Demut vor der Rolle, vor der Aufgabe, die eine derartige Ausdruckskraft erst ermöglichen.

Carolina Agüero, die B-Besetzung in der Titelrolle, ist im ersten Bild – wie die Werkstatt zeigte – eine starke Persönlichkeit und gibt ihrer Sylvia ordentlich die Sporen. Aber dann, in den Passagen, wo es um die anderen Seiten in ihr geht, die weichen, die verletzlichen, da sieht man dann doch, dass ihr noch so manches fehlt. Sie ist immer eine Spur zu selbstverliebt, Tiefe kann sich da nicht entwickeln. Aber jede Tänzerin wächst mit ihren Aufgaben. Und wer weiß – vielleicht entdeckt Carolina Agüero, die es neben den großen Hamburger Charakterdarstellerinnen nicht leicht hat, gerade in dieser Rolle, dass sie als Tänzerin nur gut sein kann, wenn sie diese anderen Seiten in sich, die sie mit Sicherheit hat, freilegt und keine Angst mehr hat, sie auch zu zeigen. Großartig auch die anderen Solisten: Alexandre Riabko ist ein wunderbar feiner Aminta, und es bricht einem schier das Herz, dass Sylvia seine Liebe nicht mit beiden Händen nimmt und festhält. Joëlle Boulogne verleiht ihrer Diana Mut und Strenge, zeigt aber in dem Pas de deux mit dem schlafenden Endymion (schlafwandlerisch abwesend und doch ganz da: Thiago Bordin), der in ihr die weichen Seiten weckt und die Liebe, ebenso eine berührende Zartheit und Hingabe. Otto Bubeníček ist ein ebenso kraftvoller wie verspielter und sinnlicher Eros/Orion/Thyrsis, tänzerisch famos – eine Augenweide. Zusammen mit dem phänomenal reduzierten Bühnenbild und den bildschönen Kostümen von Yannis Kokkos ist dieses Stück, das nach neun Jahren endlich wieder auf die Hamburger Bühne zurückgekehrt ist, mehr als sehenswert.

Weitere Vorstellungen am 28. und 30. April, am 6. und 7. Mai sowie am 4. Juli 2009.

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