Von Märchenwesen und Menschen

Ballett-Werkstatt zu „La Sylphide“ beim Hamburger Ballett

Hamburg, 24/11/2008

Warum bloß, so fragen sich wohl manche, zeigt das Hamburg Ballett als Winter-Premiere ausgerechnet „La Sylphide“, ein Stück aus dem 19. Jahrhundert, dem der Ruch des Verstaubten und Manierierten anhaftet? Ausgerechnet das Hamburg Ballett, eine der letzten Bastionen in Deutschland, die vor allem mit einem einzigen Choreografen arbeitet und noch dazu mit dem wohl letzten zeitgenössischen Meister der großen Form und genialen Geschichtenerzähler: John Neumeier. Er selbst gab die höchst schlichte und einleuchtende Antwort: „Weil es bei aller Modernität auch darum geht, Meisterwerke der Ballettgeschichte zu feiern.“ Eine Tradition, die das Hamburg Ballett in der Vergangenheit immer wieder nachhaltig gepflegt hat: mit „La Fille mal gardée“ von Frederick Asthon, mit „La Bayadère“ in der Fassung von Natalia Makarowa, mit „Jewels“ von George Balanchine. Und nun mit „La Sylphide“ in der Bearbeitung von Pierre Lacotte, nicht mit der sonst (jüngst in Berlin beim Staatsballett) häufig gezeigten Bournonville-Version.

„La Sylphide“, so Neumeier, ist keine olle Klamotte, sondern die Wiege des Spitzentanzes und Dokument einer Zeit, als die Menschen nach den beiden französischen Revolutionen keine Götter und mythologischen Figuren mehr auf der Bühne sehen wollten, sondern Geschichten aus ihrer eigenen Erlebniswelt, die sie lachen, weinen und träumen lassen. Überirdische Geisterwesen gehörten zu diesen Träumen, und ein bisschen was zum Gruseln musste auch dabei sein. Alle diese Erwartungen bediente damals „La Sylphide“. Und eröffnet damit heute auch die Möglichkeit, Tänzerinnen und Tänzer einem ihnen gänzlich fremden Stil begegnen zu lassen, und ebenso Menschen, die sie in diesem Stil korrigieren und inspirieren.

Pierre Lacotte selbst ist dafür nach Hamburg gekommen, um mit der Kompanie zu arbeiten, und aus Paris flogen zusätzlich Elisabeth Platel, ehemalige Étoile der Pariser Oper und Leiterin der dortigen Ballettschule, die „La Sylphide“ unzählige Male getanzt hat, sowie Manuel Legris, ebenfalls Étoile des Hauses und ein erfahrener Interpret der männlichen Hauptrolle, ein. Wie gut – denn der romantische Stil, in dem „La Sylphide“ getanzt werden muss, verlangt Solistinnen und Corps de Ballet (vor allem den Mädchen) einiges ab. Da gilt es, den Oberkörper möglichst weit nach vorne zu bringen (im 19. Jahrhundert eine Folge der eng anliegenden Corsagen), gleichzeitig die Füße aber schnell und mit höchster Präzision zu setzen, ganz zu schweigen von den verzögerten Balancen, der delikaten Armführung und der schwerelosen Leichtigkeit, mit der Sylphiden als Elfenwesen nunmal zu schweben haben.

Hélène Bouchet – erste Besetzung als Sylphide – wird diesem Anspruch aufs Feinste gerecht, wie einige Kostproben zeigten. Thiago Bordin steht ihr weniger als schottisch-strammer denn als elegant-sprungkräftiger James zur Seite, ebenso wie Alexandre Riabko, der für die zweite Besetzung vorgesehen ist und ein fulminantes Solo zeigte. Unterhaltsam wurde die Ballett-Werkstatt durch Gäste vom Königlich Dänischen Ballett Kopenhagen, die den Vergleich mit der Bournonville-Fassung erlaubten. Und eine regelrechte Offenbarung gelang Neumeier, als er mit zwei Pas de deux aus seiner „Kleinen Meerjungfrau“ zeigte, dass die Liebe zwischen Märchenwesen und Mensch auch im modernen Ballett und in unserer heutigen Zeit ihren Platz hat. Silvia Azzoni – in dieser Rolle unerreicht und von einer überwältigenden Darstellungskraft, gerade ohne Schminke und lediglich mit dem überlangen blauen Beinklein als Kostüm – und Carsten Jung brachten hier Überirdisches und Irdisches auf kongeniale Weise zusammen.

Diese 180. Ballett-Werkstatt – wie immer um diese Zeit als Benefiz-Vorstellung für das Hospiz Hamburg-Leuchtfeuer veranstaltet, dem als Erlös 45.000 Euro überreicht werden konnten – schloss auch dieses Jahr mit dem Pas de deux „Wo die schönen Trompeten blasen“, eine Reminiszenz an Gigi Hyatt und den unvergessenen und – wie eine ganze Reihe von Tänzern – viel zu früh an Aids verstorbenen Jeffrey Kirk. Silvia Azzoni und Alexandre Riabko tanzten diesen Pas de deux mit bewegender Innigkeit. Premiere von „La Sylphide“ am 7. Dezember, weitere Vorstellungen am 9., 10. und 17. Dezember 2008 sowie am 9. und 10. Januar 2009.

 

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