„Man muss bis zum Schluss alles geben“

Ein Gespräch mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, Erste Solisten des Hamburg Balletts

Hamburg, 16/04/2009

Silvia Azzoni wurde 1973 in Turin geboren, sie kam 1993 zum Hamburg Ballett, wo sie 1996 Solistin und 2001 Erste Solistin wurde. 1995 erhielt sie den Dr. Wilhelm-Oberdörffer-Preis, 2004 den „Danza & Danza-Preis“ für die beste italienische Tänzerin im Ausland und 2008 schließlich den Prix Benois de la Danse für ihre Interpretation der „Kleinen Meerjungfrau“ von John Neumeier. Alexandre Riabko, genannt „Sascha“ wurde 1978 in Kiew geboren, er kam 1995 an die Schule des Hamburger Ballettzentrums, wurde 1996 in die Kompanie übernommen, avancierte 1999 zum Solisten und 2001 zum Ersten Solisten. Es gibt kaum eine große männliche Rolle in Neumeier-Balletten, die er noch nicht getanzt und in der er noch nicht brilliert hätte. Seit 1997 sind die beiden privat ein Paar, 2005 wurde geheiratet. Annette Bopp sprach in Hamburg mit den beiden Ersten Solisten.

Was ist das für ein Gefühl, diesen „Oscar“ der Tanzwelt zu bekommen?

Silvia Azzoni: Als ich die Nachricht bekam, dass ich für den Prix Benois nominiert bin, war ich sehr aufgeregt und konnte gar nicht glauben, dass mir das passiert. Ich kannte den Preis natürlich, aber die Möglichkeit, dass ich selbst unter den fünf Kandidaten sein könnte, ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe mich sehr gefreut, aber als ich da war, dachte ich, es wäre gar nicht so schlimm, wenn ich ihn nicht bekommen würde – ich bin schon durch die Teilnahme selbst eine Gewinnerin. Ich war dabei – die Leute haben meine Vorstellung gemocht, das ist das Wichtigste. Als dann mein Name genannt wurde, war ich total überrascht. Die Zeremonie ist ganz ähnlich wie beim Oscar, Gewinner vom Vorjahr kommen mit einem verschlossenen Umschlag auf die Bühne, und dann heißt es „...and the winner is...“! Das Problem war nur, dass ein Russe meinen Namen vorgelesen hat, und ich habe ihn nicht verstanden, meine Freundin musste mich erst darauf aufmerksam machen... Danach musste ich mich superschnell umziehen und schminken und einen Pas de deux aus der „Meerjungfrau“ tanzen, ohne Vorbereitung, nur Make-up und hopp! Das war schon sehr speziell. Carsten Jung war als Partner extra mitgekommen, für den Fall des Falles!

Die „kleine Meerjungfrau“ ist für Sie ja eine sehr spezielle Rolle. Was bedeutet sie für Sie?

Silvia Azzoni: Ich hatte vom ersten Tag an das Gefühl: Das wird etwas ganz Besonderes. Ich hatte mich sofort richtig gefühlt in den Bewegungen, auch in die Dramaturgie musste ich mich nicht einfinden, das kam alles so aus mir heraus, ganz natürlich. Je länger ich diese Rolle tanze, desto besser kenne ich dieses Wesen. Ich muss nie an eine Pose denken oder an Gefühle, die ich jetzt haben sollte – sie sind schon da. Wenn wir ein Ballett einstudieren, dann ist das manchmal sehr festgelegt, bei „La Sylphide“ zum Beispiel sind es ganz bestimmte Bewegungen, die man mit einer speziellen Technik und in einem bestimmten Stil ausführen muss. Daran müssen wir immer denken, wenn wir tanzen. Bei der „Meerjungfrau“ muss ich nicht denken, das ist alles schon in mir. Das habe ich bei kaum einer anderen Rolle. Ich kann mich in jeder Vorstellung voll hineinlegen. Deshalb ist das meine absolute Traumrolle. So intensiv hatte ich das bisher bei keiner anderen Aufgabe erlebt.

Alexandre Riabko: Wenn sie es tanzt, sieht es aus, als hätte John Neumeier es nur für Silvia kreiert, jede Bewegung ist für sie gemacht. Aber das stimmt gar nicht, denn das ganze Ballett war schon fertig, es ist in Kopenhagen uraufgeführt worden, und Silvia hat es in Hamburg nur übernommen.

Silvia Azzoni: Es gibt viele Rollen, in denen ich mich auf der Bühne gut gefühlt habe und wusste, das passt, aber ich musste immer viel daran arbeiten. Bei der „Meerjungfrau“ ist dieses Gefühl ganz von alleine da, von Anfang an.

War das schon bei der ersten Probe so?

Silvia Azzoni: Ja. Ich habe das Video der Kopenhagener Produktion gesehen mit Marie-Pierre Greve und sie darin ganz toll gefunden, sie war sofort eine Inspiration, aber erstmal dachte ich: Das schaffe ich nicht, das ist so schwierig, so anspruchsvoll. Ich war sehr bewegt von dem Stück, von der Emotionalität. Bei der ersten Probe war es dann noch schwierig, aber dieses Gefühl der absoluten Übereinstimmung war schon da. Und dann habe ich mich voll in die Arbeit gestürzt. Marie-Pierre ist größer als ich, und als wir hier angefangen haben – ich bin ja relativ klein, Carsten Jung als mein Partner relativ groß –, hat John Neumeier sofort gesehen, dass sich daraus andere Möglichkeiten ergeben, und so sind viele Pas de deux nochmal verändert worden. Wir können viel mehr machen. Es war eine ganz wunderbare Zusammenarbeit, wir haben viel gelacht und neue Bewegungen erfunden.

Wie ist das bei der „Kameliendame“?

Silvia Azzoni: Da muss ich mich noch finden, ich habe die gesamte Rolle bisher erst in Japan getanzt, die Hamburger Vorstellungen dazu folgen im Mai. Es ist eine wunderbare Aufgabe, ich liebe diese Rolle sehr! Ich fühle mich darin mehr als Schauspielerin denn als Tänzerin – die Schritte ergeben sich dann fast wie von selbst, das ist wunderbar! Man kann diese Rolle wohl auch erst tanzen, wenn man ein bestimmtes Alter hat. Wenn man ganz jung ist, kann man das noch nicht bis in die tiefsten Tiefen ausloten. „Nijinsky“ könnte auch nie ein ganz junger Tänzer tanzen, man braucht Reife und Erfahrung. Für mich ist jetzt der richtige Zeitpunkt für diese Rolle. Es gibt aber noch viele andere Rollen, die ich wirklich mag – Manon zum Beispiel, in der „Kameliendame“, da habe ich auch kein Problem, mich zu finden.

Womit hängt das zusammen?

Silvia Azzoni: Ich weiß nicht. Vielleicht liegt es daran, wie nahe die Rolle an der eigenen Persönlichkeit ist. Ich bin zwar überhaupt nicht wie Manon, aber die Art, wie sie sich bewegt, das liegt mir viel mehr als z.B. die Rolle der Prudence in der „Kameliendame“, die ich auch getanzt habe.

Ist es die Ambivalenz zwischen Glück und Leid, die ja bei der „Kleinen Meerjungfrau“ ebenfalls ganz präsent ist?

Silvia Azzoni: Ja, das finde ich immer spannend! Mit „La Sylphide“ als Ballett habe ich viel mehr Schwierigkeiten, weil die Handlung und die Rolle nicht so tiefgründig sind. Es ist mehr etwas Romantisches, ein Spiel. Es ist technisch sehr anspruchsvoll, die Schritte sind sehr schwierig. Insofern ist die „Sylphide“ natürlich eine Herausforderung und eine schöne Abwechslung. „La Fille mal gardée“ ist genauso romantisch wie „La Sylphide“, das liegt mir mehr, weil es so viel Witz hat, es ist lustig und heiter. Ich liebe Rollen, wo man mit den Gefühlen spielen kann, wo Glück und Leid nah beieinander liegen. Deshalb kann ich von der „Meerjungfrau“ auch nie genug kriegen! Ich liebe jede Vorstellung, jede!

Als Paar haben Sie beide zusammen im Dezember 2008 den Preis „Les Étoiles de Ballet2000“ bekommen, den die Zeitschrift „Ballett2000“ vergibt und für den eine Jury aus 18 Fachjournalisten die besten Tänzerinnen und Tänzer auswählt. Wie ist es für Sie beide, als Paar zu tanzen?

Alexandre Riabko: Es ist immer etwas Besonderes, wenn wir zusammen tanzen können. Wir haben über Jahre zusammengetanzt, viel gelernt, da ist es einfacher, gemeinsam neue Rollen einzustudieren. Wir wissen genau, was der andere jeweils braucht. Es ist ein Glück, dass wir so zueinander passen, so harmonisch sein können.

Silvia Azzoni: Wir atmen fast gleichzeitig, wir bewegen uns auf demselben Flow. Manchmal habe ich mit sehr guten Partnern getanzt, aber wenn sie dann eine andere Richtung hatten als ich, wurde es immer schwierig. Mit Sascha war es immer wie auf einer Welle, das ganze Stück hindurch. Das ist für mich sehr beruhigend. Wir wissen um unsere Liebe, aber auch um unsere Kontraste. Wenn wir ein Liebespaar tanzen, müssen wir das nicht spielen, das ist natürlich sehr schön. Wenn wir tanzen, brauche ich ihm nur in die Augen zu schauen und weiß: Das ist mein Sascha! Das ist sehr speziell.

Alexandre Riabko: Das gibt es einfach nicht so oft in dieser Art, diese Verständigung ohne Worte, wo nur die Körper sprechen. Wir sind jetzt neun Jahre zusammen als Paar, getanzt haben wir auch schon früher zusammen.

Fallen Ihnen dann bestimmte Pas de deux leichter? In der „Kameliendame“ zum Beispiel, die drei großen Pas de deux sind ja Liebe pur!

Alexandre Riabko: In der „Kameliendame“ ist es schon nötig, dass da eine gewisse Distanz ist. Armand und Marguerite sind sehr unterschiedlich, am Anfang spielt sie nur mit ihm und schaut, wie er darauf reagiert. Und er ist ganz stürmischer jugendlicher Liebhaber und wirft sich ihr zu Füßen. Sie dagegen ist schon erfahren und schaut eher von oben auf ihn herab. Das kann kein Liebespaar auf derselben Ebene sein. Es sind verschiedene Ebenen, die für kurze Zeit zusammenkommen. Im weißen Pas de deux zum Beispiel sind sie ganz eine Ebene, wenn wir den zusammentanzen, ist es recht einfach, da spüren wir sofort, was man spüren muss. Aber im schwarzen Pas de deux ist viel Leiden und Rückzug. Das zu finden, ist nicht so einfach.

Silvia Azzoni: Sascha hat mir da am Anfang sehr geholfen, ich war viel zu sehr in ihn verliebt im ersten Akt, und er sagte mir, nein, du musst ganz distanziert sein, ungläubig, weil Marguerite kaum glauben kann, dass ihr so etwas passiert.

Welche Rolle fehlt noch, welche würden Sie gerne noch tanzen?

Silvia Azzoni: Eine, die ich wohl eher nicht bekommen werde: Desdemona! Das war immer meine Traumrolle, seit ich in der Kompanie bin. Da ist eben auch Glück und Leid ganz nah beieinander. Aber bisher hat es noch nicht sollen sein. Und ich habe die „Meerjungfrau“, da darf ich mich doch glücklich schätzen! Ophelia würde ich auch gerne tanzen, sie hat auch diese beiden Seiten: am Anfang ganz fröhlich, später verrückt und voller Leid. Ich habe so viel tanzen dürfen – das ist ein großes Geschenk.

Und als Paar?

Silvia Azzoni: Ophelia und Hamlet wäre wirklich eine schöne Herausforderung.

Alexandre Riabko: Hamlet reizt mich ebenfalls sehr, nach Nijinsky und Armand wäre das sehr spannend.

Was ist „Nijinsky“ für Sie?

Alexandre Riabko: Ich glaube, was für Silvia die „Meerjungfrau“, ist für mich „Nijinsky“. Zwischen Vaslaw Nijinsky und mir gibt es eigenartige Parallelen: Er wurde auch in Kiew geboren, und wir sind uns im Profil sehr ähnlich. Diese Rolle ist immer etwas Besonderes gewesen, von Anfang an. Ich habe mich vom ersten Probentag an darin zuhause gefühlt. Und es war eine ganz, ganz wichtige Rolle auf dem Weg meiner Entwicklung. Sie öffnete für mich viele innere Türen, ich konnte daran wirklich wachsen, neue Kräfte wurden freigesetzt. Es war ein großes Glück, sie mit zu kreieren. John Neumeier hat damals mit drei Tänzern zugleich geprobt: Jiří Bubeníček, Yukichi Hattori und mir. John Neumeier hat mir bei meiner Interpretation viel Spielraum gelassen. Ich konnte viel ausprobieren, bis die Rolle für mich absolut authentisch war. Nijinsky ist eine extrem anstrengende Rolle – körperlich wie geistig. Es ist eindeutig meine Lieblingsrolle neben Armand in „Kameliendame“, Armand hat mich ebenfalls von Anfang an unglaublich fasziniert. Diese Rolle wollte ich schon seit meinem 22. Lebensjahr unbedingt tanzen! Ich habe mit Joëlle Boulogne als Marguerite lange daran gearbeitet, und wir haben unsere Rollen darin gefunden, das ist schön, jedesmal.

Sie tanzen noch eine sehr spezielle Rolle, nämlich „Opus 100 – für Maurice“, zusammen mit Ivan Urban. John Neumeier hat das Werk 1996 Maurice Béjart zum 70. Geburtstag geschenkt. Was bedeutet Ihnen dieses Stück?

Alexandre Riabko: Ich hätte nie gedacht, dass das eine Rolle für mich ist. Als es 1996 mit Kevin Haigen und Ivan Liška uraufgeführt wurde, war das etwas so Einmaliges und Besonderes, dass ich immer nur dachte: Was für ein Glück, dass ich das erleben durfte! 2003, zum 30. Jubiläum des Hamburg Ballett, haben die beiden das Stück dann an uns weitergegeben, das war wunderbar – den ersten Teil haben sie getanzt, den zweiten Ivan Urban und ich, das war sehr bewegend. Ich genieße es jedesmal, wenn ich es tanzen darf. Es ist ein großartiges Stück, das voller Zitate und Anspielungen steckt, aber mit einem ganz eigenen inneren Leben.

Sie haben beide einen sehr hohen Anspruch an Ihre Kunst, und selbst die 105. Wiederholungsvorstellung wirkt bei Ihnen, als tanzten Sie sie zum ersten Mal. Wie machen Sie das?

Silvia Azzoni: Man muss von Anfang an bis zum Schluss alles geben, in jeder Sekunde, man darf nie nachlassen – nur dann ist man frei, eine Rolle wirklich zu erfüllen. Die Technik ist dabei immer nur Mittel zum Zweck. Wenn man sich das klar macht, ist jede Vorstellung etwas Besonderes.

Wie sind Ihre Zukunftspläne?

Silvia Azzoni: Tanzen! Ich bin jetzt in einem Alter, wo das Tanzen am schönsten ist. Natürlich tut der Körper immer irgendwo weh, und manchmal denke ich, ich kann nicht mehr. Aber dann stehe ich auf der Bühne und fühle eine große Gelassenheit, das ist so schön. Als ich jung war, war ich immer total aufgeregt, jeden Schritt und jeden Blick musste ich kontrollieren. Heute bin ich viel ruhiger, das macht die Arbeit leichter. Und privat? Wir hätten gerne ein Kind! Denn die biologische Uhr tickt natürlich… Aber wir haben so viele schöne Aufgaben – die sind uns mindestens ebenso wichtig! Irgendwann später sitzen wir dann mal in der Toskana in einem schönen Haus, genießen den täglichen Sonnenschein und die leckeren Tomaten mit Büffelmozzarella!

Am 18. April und 11. Juni tanzt Silvia Azzoni die Hauptrolle in der „Kleinen Meerjungfrau“. Am 25. und 30. April sowie am 6. Mai übernimmt sie die Titelrolle in der Wiederaufnahme von John Neumeiers „Sylvia“, am 23. Mai und 3. Juni ist sie – erstmals in Hamburg – als Marguerite in „Kameliendame“ zu sehen. Alexandre Riabko übernimmt in „Sylvia“ an der Seite seiner Frau die Rolle des Aminta, bei der Jubiläumsvorstellung anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Ballets Russes am 19. Mai tanzt er die Titelrolle in „Nijinsky“, und am 23. Mai ist er Armand in „Kameliendame“ (mit Joelle Boulogne als Partnerin).  www.hamburgische-staatsoper.de

 

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