Le Pavillon des souvenirs

Eröffnung der neuen Saison mit dem „Hommage aux Ballets Russes“-Programm

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Hamburg, 24/09/2009

Die ersten beiden Vorstellungen der neuen Saison mit dem „Hommage aux Ballets Russes“-Programm, mit dem am 28. Juni die 35. Hamburger Ballett-Tage begonnen hatten. Sozusagen die Krönung der kontinuierlichen Bemühungen John Neumeiers, in der Freien und Hansestadt an die Diaghilewschen Ballets Russes anzuknüpfen. Das geht nun also seit einem Drittel Jahrhundert so, denn es begann 1975 mit einer Nijinsky-Gala, für die Alexandra Danilova einen Ausschnitt aus „Le Pavillon d‘Armide“ einstudierte, in dem 1909 die westliche Welt erstmals das Phänomen Nijinsky bestaunte – 1975 mit dem Deutschland-Debüt von Michail Baryschnikow (an der Seite von Marianne Kruuse, Marina Eglevsky und Zhandra Rodriguez).

Seither bildet Nijinsky den Cantus firmus des Neumeierschen Repertoires: als Solostück, in den diversen Neumeier-Adaptionen jener Ballette, die Nijinsky kreiert hat, in dem großen Abendfüller „Nijinsky“ als Reflexion über sein Leben – und nun also als seine Kreation jenes Balletts, das Diaghilew an den Anfang seiner ersten Pariser Saison gestellt hatte, „Le Pavillon d‘Armide“. An diesem Abend eingerahmt vom letzten Ballett, das die Diaghilew-Truppe herausgebracht hat: Prokofjew-Balanchines „Verlorenem Sohn“ von 1929 – und Strawinskys „Le Sacre du printemps“ in der rekonstruierten Nijinskyschen Uraufführungsversion von 1913. So stiftet man balletthistorische Kontinuität – vom Publikum begeistert akklamiert, das in beiden Vorstellungen das Opernhaus am Dammtor bis auf den letzten Platz füllte.

Wobei die beiden Ballette von Nijinsky und Balanchine das mit seinen knapp zweihundert Minuten arg lange Programm ergänzten: Historische Genrepiecen für ballettgeschichtliche Connaisseurs. „Der verlorene Sohn“ als völlig aus der Art geschlagene Balanchine-Reminiszenz aus seinen Leningrader Lehrjahren, ein Memorial des sowjetischen Theater-Oktober als expressionistische Comic-Groteske in der Lopuchow-Tradition (mit einem hinreißend tanzenden Alexandre Riabko als Protagonist – die Premiere im Juni hatte Alexandr Trusch getanzt, Hamburgs neuer russischer Wunderknabe – und der nicht ganz so sirenenhaft-verführerischen Anna Laudere, in der sehr präzisen Einstudierung von Patricia Neary). Und der sogenannte Ur-„Sacre“ in der rekonstruierten Fassung von Millicent Hodson und Kenneth Archer, mit Carolina Agüero in der Rolle des Opfers – heutzutage sich in den doch arg plundrig-zotteligen Kostümen wie eine Nachmittags-TV-Folklore-Show von Carmen Nebel aus dem Jahr 1913 ausnehmend.

Ein Programm also als Repräsentation dessen, was ich das Ballett-Theater im Gegensatz zum heutigen Tanztheater nenne: als Symbiose von Handlung, Tanz und Musik. Mit Nikolajewitsch Tscherepnins „Armide“-Partitur in der Tradition von Glasunow (für mich jedenfalls weit bestimmender als ihre meist behauptete Herkunft in der Wagner-Tschaikowsky-Rimsky-Korsakow-Nachfolge) und Delibes („La Source“) – eine ungemein tanzgenerierende Musik, eigens adaptiert für die Hamburger Aufführung, von den Hamburger Philharmonikern unter der Leitung von Jonathan McPhee ausgesprochen fußkitzelnd interpretiert). Sicher über Fokines Originalproduktion hinausgehend, im Diaghilewschen Sinne als „Gesamtkunstwerk“ von Neumeier weiterentwickelt, der außer für die Choreografie (mit Anleihen namentlich bei Petipa, Fokine, Nijinsky und ein bisschen Nijinska) auch für das Benois zitierende Bühnenbild und die Kostüme (ein Sonderlob für deren auch farblich ungewöhnlich geschmackvolle Anfertigung durch die Hamburger Werkstätten) verantwortlich zeichnet.

Für die exakte Beschreibung des Hamburger „Pavillon d‘Armide“ verweise ich auf Annette Bopps Premierenkritik vom 29. Juni. Nachdem ich die Produktion jetzt zweimal gesehen habe, frage ich mich, grundsätzlich skeptisch im Gebrauch von Superlativen, ob sie das größte Ballettereignis meines bisherigen Lebens ist, in dem ich nunmehr auf immerhin rund sechzig Jahre professionell-journalistischer Beobachtung des Balletts zurückblicke, inklusive Coralli/Perrot, Bournonville und Saint-Léon, Petipa/Iwanow, Fokine/Nijinsky/Massine/Nijinska und Balanchine – inklusive auch Neumeier. Was interessieren mich Sylphiden, Wilis, Prinzen und Prinzessinnen, Schwäne und der ganze Olymp mit seinen Göttern gegenüber Menschen und ihren Schicksalen. Nie ist – für mich – das Ballett einer menschlichen Tragödie so nahe gekommen wie in diesem „Pavillon d‘Armide“, der für mich ein „Pavillon der Erinnerungen“ eines genialen Tänzers ist, beginnend mit der Einlieferung Nijinskys in das Sanatorium „Bellevue“ im schweizerischen Kreuzlingen und den Halluzinationen seines früheren Lebens nebst der großen Momenten seiner Karriere inklusive der kurzen Augenblicke seiner Rückkehr in die Wirklichkeit und den vergeblichen Versuchen seines Arztes (den Neumeier in einem absolut genialen Einfall der Verschmelzung mit Diaghilew gleichsetzt, so dass man die letzte Begegnung von Nijinsky mit Diaghilew und Karsavina von 1928 mit der definitiven Verabschiedung Nijinskys aus dem Leben assoziiert, auch wenn er danach noch 22 Jahre weiter existiert hat, um am Ende, all seiner irdischen Paraphernalia entkleidet, nackt in die Ewigkeit einzugehen, ein anderer „Narr Gottes“ aus der Historie des heiligen Russland wie der Einfältige am Schluss von Mussorgskys Oper „Boris Godunow“).

Was sind alle unsere literarischen Balletthelden à la Romeo, Hamlet, Othello und Spartakus, gemessen an diesem Nijinsky als Verkörperung ganzer Zeitalter der Ballettgeschichte – und einem zweiten Handlungsfaden der großen Liebe seiner Frau Romola – ganz unhysterisch und eifersuchtsfrei gezeichnet, aber natürlich sich danach sehnend, wiedergeliebt zu werden – die eher schüchternen Annäherungsversuche an den Arzt und dessen emphatisch ärztlich-liebesvolle Zuneigung zu seinem der unaufhaltsamen Verfinsterung verfallenen Patienten. Erst beim wiederholten Sehen beginnt man die ungeheuerliche Komplexität dieser Dramaturgie zu ahnen, das außerordentliche theatralisch-handwerkliche Geschick, mit dem Neumeier die realen mit den halluzinatorischen Szenen verknüpft (so dass ich bei den immer wieder auftretenden schwarzgekleideten Paaren an eine Art Trauerkondukt der sterbenden russischen Gesellschaft vor der Oktoberrevolution dachte – mit den großen Walzer-Ensembles wie aus Puschkin/Tschaikowskys „Pique Dame“ als Vorwegnahme der Katastrophen-Apotheose von Ravels „La Valse“).

Nicht weniger genial die Verknüpfung des ursprünglichen Pas de trois mit der mythischen Armida-Story und dem Eingreifen des realen Nijinsky, so dass aus dem originalen, divertissementhaften Pas de trois (in Anlehnung an Petipas Auftritt von Solor und Nikija mit den Variationen für die Bajaderen im „Reich der Schatten“ ein großer, handlungsmäßig total integrierter Pas d‘action wird). Wie ihm auch die Einbeziehung der solistischen Danse siamoise in den dramaturgischen Ablauf gelingt! Ach wenn doch Petipa damals am St. Petersburger Mariinsky-Theater einen Dramaturgen vom Format Neumeiers gehabt hätte (wie ja dann den als Produktionsdramaturg für die geplante „Sylvia“-Neuinszenierung engagierten Diaghilew, aus der er dann prompt herausgemobbt wurde)! Ich stehe nicht an, diesen Hamburger „Pavillon d‘Armide“ als die legitime Wiedereinsetzung der theatralischen Rechte des Handlungsballetts zu reklamieren – und in diesem Sinne Neumeier als den Fortsetzer der „Hamburgischen Dramaturgie“ Lessings zu feiern (und in gewissem Sinne als Bestätiger von Noverres Theorie und Ästhetik des Ballet d‘action).

Und so könnte ich noch eine Weile fortfahren mit der Diskussion über die Details dieser modellhaften Ballettproduktion– die so total aus dem Rahmen meiner sonstigen koeglerjournale fällt. Und hätte noch immer nichts gesagt über die sensationellen Leistungen der Tänzer – doch was heißt hier Tänzer, wo sie doch alle große Tanzschauspieler sind. Mit einer Traumrolle für Otto Bubeníček als Nijinsky, der mich hat mitleiden lassen wie noch kein Tänzer je zuvor, und für Alexandre Riabko als seine traumtänzerische Alternative auf dem Höhepunkt seiner Karriere, aber auch für Joëlle Boulogne als ungemein anrührende Romula (und Zauberin Armida) und Ivan Urban als Arzt, der hier mitfühlender Seelen-Doktor ist und in die Rolle Diaghilews schlüpft für einen letzten Versuch, Nijinsky in die Realität zurückzuholen (ein Pas de deux von einer ganz unglaublichen Zartheit), für Yohan Stegli als Danseur siamoise und all die anderen wunderbaren Tänzerinnen und Tänzer des Hamburger Balletts als Porträtisten der St.Petersburg/Pariser Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Ein Meisterwerk des Weltballetts! Das Zeugnis ablegt von dem künstlerischen Standard, den sich die Kompanie in den über drei Jahrzehnten der Neumeier-Ära erarbeitet hat. Und so in den Paris, Kopenhagen, St. Petersburg, westeuropäisches Russenexil und New York überschriebenen Kapiteln der Ballettgeschichte nunmehr Hamburg an die Seite stellend. Chapeau!

Und wenn Neumeier noch einen weiteren Schritt über Diaghilew hinaus unternehmen will, so sei er an die nicht zustande gekommene „Liturgie“ von 1915 erinnert, die als Koproduktion von Gontscharowa, Larionow und Massine geplant war – als eine russisch-orthodoxe Messe, für die ursprünglich Strawinsky als Komponist vorgesehen war, der seine definitive Version nach diversen Vorformen erst 1964 abschloss (aber vielleicht könnte sich Neumeier an Rachmaninows Vesperliturgie op. 37 halten oder einen neuen Kompositionsauftrag vergeben – ich denke an Galina Ustvolskaja – und damit ein neues Stück für seinen Zyklus geistlicher Ballette gewinnen). Wer den neuen Hamburger „Pavillon d‘Armide“ ganz schnell sehen will, sollte sich vielleicht ein Flugticket (und natürlich eine Eintrittskarte) für das Hamburger Gastspiel in St. Petersburg am 12. und 13. Oktober kaufen – sonst erst wieder in Hamburg am 7., 8. und 11. Mai sowie am 24. Juni im Rahmen der 36. Hamburger Ballett-Tage.

 

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