Die Generalistin in der Nordheide

Ingrid Burmeister ist seit 58 Jahren am Theater und seit 21 Jahren leitet sie das Lüneburger Ballett als Choreografin und Ballettmeisterin

Lüneburg, 11/11/2009

Sie ist eine waschechte Berlinerin, das kann und will sie bis heute nicht verleugnen: Ingrid Burmeister hat das Herz auf dem rechten Fleck, und sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Kerzengrade, die dunklen Haare – was denn sonst? – hochgesteckt, die Augen immer direkt auf das Gegenüber gerichtet, beantwortet sie jede Frage, ohne lange zu zögern. Ausweichen, taktieren, um den heißen Brei herum reden ist ihre Sache nicht. Seit 58 Jahren ist sie mittlerweile am Theater – zuerst als Solotänzerin, später als Ballettmeisterin, Choreografin, Direktorin. „Ich bin die dienstälteste Ballettmeisterin Deutschlands“, lacht sie – aber ihr genaues Alter verrät sie dann doch nicht. Berufsgeheimnis. Eigentlich wollte Ingrid Burmeister Trapezkünstlerin werden – schon ihr Großvater war nebenberuflich Clown beim Varieté Wintergarten in Berlin –, aber nachdem die Leiterin der Artistenschule in Potsdam einer Lungenentzündung erlag, wurde daraus nichts, und sie musste „nur“ mit dem Ballett vorliebnehmen, dem sie aber rasch mit Haut und Haar verfiel.

Engagements führten sie nach Greifswald, Chemnitz, Rheydt, Münster und Oldenburg. Mehr oder weniger „zwischendurch“ heiratete sie und wurde sie Mutter eines Sohnes – der Tanz hatte aber stets Priorität. Unter anderem arbeitete sie mit der Tänzer-Legende Rainer Köchermann zusammen, bis sie 1980 die Spitzenschuhe endgültig an den Nagel hing, um sich der zweiten Karriere als Ballettmeisterin und Choreografin zu widmen. Zuerst übernahm sie, die schon in Oldenburg als stellvertretende Ballettmeisterin gewirkt hatte, in Pforzheim die Leitung der dortigen Kompanie. 1988 holte sie Thomas Bayer, seit 1986 Intendant in Lüneburg, nach Norddeutschland, unmittelbar vor die Tore von Hamburg, das schon damals dank John Neumeier als eine der Hochburgen des Tanzes schlechthin galt.

Heimlich, still und leise jedoch brachte Ingrid Burmeister in der Diaspora der Nordheide ihre Sparte zum Blühen und etablierte dort eine Kompanie mit einem Repertoire, das bundesweit an Theatern dieser Größenordnung sicher seinesgleichen sucht. „Wir haben alles gemacht – Musicals wie ‚Hair’, ‚Kiss Me, Kate’, ‚Anatevka’, Oper, Operette, Ballett – überall, wo Tanz gewünscht war, waren wir dabei, und wir hatten große Erfolge“, erinnert sich Ingrid Burmeister, und wird ganz schwärmerisch dabei. Um sich gleich darauf heftig zu empören: „Heute sind die meisten Regisseure leider nicht mehr daran interessiert, das Ballett richtig einzusetzen, sie sehen es allenfalls noch als Staffage und haben keine Ahnung davon, wie das Ballett die anderen Sparten bereichern und ergänzen könnte.“ Richtig aufregen kann sie sich über Regisseure, die Ballettmusik in den Opern und Operetten einfach herausstreichen. Über die Respektlosigkeit, Tänzer als Füllsel zu nutzen, „um 16 Takte zu überbrücken, bis die Sänger wieder dran sind“. Über die Arroganz, Tänzer zu Statisten zu degradieren, nach dem Motto: „Keiner trägt die Lanze so graziös wie ein Tänzer...“ Über die Neigung, aus Ersparnisgründen mancherorts Ballettschüler anstatt Profis in den Tanz-Einlagen einzusetzen. Mit nicht wenigen Regie-Größen ist sie sich darüber heftig in die Haare geraten. Aufregen kann sie sich aber auch über Tänzerinnen und Tänzer, die sich immer häufiger für Oper und Operette zu schade sind: „Ich habe immer jede Art von Kunst und Kultur mitgenommen, ich war mir für nichts zu schade – und die Worte ‚das mach ich nicht’ kamen in meinem Wortschatz schlicht nicht vor.“

„Das Tanztheater wird überschätzt!“ Für Tanztheater hat sie deshalb auch nicht viel übrig: „Die Reduktion auf das Tanztheater an den kleineren Bühnen ist die Totenglocke für den Tanz als eigenständige Sparte“, geißelt sie die aktuelle Entwicklung. „Das Tanztheater wird viel zu sehr hochgejubelt. Die Begründung ‚Wir wollen modern sein und mit der Zeit gehen’ ist meist nur ein Vorwand, ein Ensemble von 20 festen Stellen auf die Hälfte zusammenzustreichen – damit schneidet man sich von der Tradition ab, und die Häuser bleiben leer.“ Zumindest abseits der Großstädte – denn die Auslastung am Lüneburger Stadttheater gibt ihrer Repertoirepolitik, die sich auf der Hauptbühne vor allem auf große Handlungsballette konzentriert, recht. Liegt sie unter 70 Prozent, empfindet sie das schon als Katastrophe, normal sind für sie 75 Prozent und mehr – Zahlen, von denen viele Bühnen beim Tanz nur träumen können. Sie brachte alles, was in der Ballettliteratur Rang und Namen hat, auf die kleine Lüneburger Bühne, von „La Sylphide“ bis „Undine“, von „Nussknacker“ bis „Bernarda Albas Haus“, von „La fille mal gardée“ bis „Manon“, von „Romeo und Julia“ bis „Hoffmanns Erzählungen“, von „Sommernachtstraum“ bis „Carmina Burana“, von „Don Quichotte“ bis „Rhapsodie in Blue“. Nur „Schwanensee“ hat sie ausgelassen – die Adaptation auf kleinere Dimensionen hätte zu große Einschnitte bedeutet, auch für die Musik, und das wollte sie nicht.

Geschichten erzählen auf der Bühne auf ästhetische Weise, das liegt ihr: „Das meiste lässt sich auf einen Kern konzentrieren und dann auch mit einem kleinen Ensemble zeigen, und ich weiß, dass ich das kann“, sagt sie selbstbewusst. „Bei mir braucht man nicht erst das Programm zu lesen, um zu verstehen, was vor sich geht, das erschließt sich aus dem, was auf der Bühne passiert. Die Zuschauer wollen etwas fürs Auge, die wollen sich an uns erfreuen, das muss man ihnen auch bieten.“ Tanz beruhe nun einmal auf dem klassischen Training, und sie sehe nicht ein, dass die Jungen und Mädchen diese Ausbildung durchstehen müssen und es dann als fertige Tänzer und Tänzerinnen nicht anwenden können, erklärt sie ihre Philosophie. „Wir trainieren täglich, und ein gut ausgebildeter klassischer Tänzer kann im Grunde alles, er hat seinen Körper als Instrument zur Verfügung – ob klassisch oder modern! Man kann doch nicht den Reichtum von 400 Jahren Tanzgeschichte einfach wegwerfen, bei der Musik macht man das doch auch nicht!“

Eine ihrer großen Stärken ist, im Rahmen dieser Handlungsballette die Charaktere zu entwickeln und herauszuarbeiten. Ihre Tänzer – neun feste Stellen hat sie in Lüneburg – müssen deshalb immer auch schauspielerische Qualitäten aufweisen: „Ich möchte Menschen sehen, keine Puppen! Das Handwerkliche, die Technik, ist die Voraussetzung, aber eine gute Darstellung hängt nicht davon ab, ob ich 32 Fouettés drehen kann, sondern ob ich eine Rolle glaubwürdig über die Rampe bringe.“ Die Bewegungen der Tänzer müssen sie berühren, nichts darf gedankenlos erfolgen: „Ich muss genau wissen, warum ein Schritt jetzt und so erfolgt, sonst ist es Leere.“ Dieser hohe Anspruch an die Darstellung und die Choreografie ist wohl eines ihrer Erfolgsrezepte, neben der Liebe zu ihrer Kompanie, über die sie wie eine Glucke wacht. „Sie stellt hohe Ansprüche an die Disziplin ebenso wie an das Können, den Fleiß, die Einsatzbereitschaft – und die Tänzerinnen und Tänzer, die sich darauf einlassen, sind ihr treu ergeben. Sie wissen genau, welch ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten ihnen diese Bühne bietet. Deshalb kann sich Ingrid Burmeister auf ihr Ensemble auch hundertprozentig verlassen, manche und mancher von ihnen ist sogar schon seit vielen Jahren dabei. Sie lieben ihre Chefin, und würden wohl noch verletzt weitertanzen, nur um sie nicht zu enttäuschen. „Wer hier ist, will kaum wieder weg“, lächelt Ingrid Burmeister wissend. „Solche Arbeit gibt es an anderen Bühnen nicht mehr so oft.“ Dies umso mehr, als sie mit dem „Ballettstudio“ auch eine kreative Experimentierwerkstatt anbietet, wo sich immer zum Ende der Spielzeit Tänzerinnen und Tänzer als Choreografen versuchen können, und wo moderne Stücke – auch Tanztheater! – ihren Platz haben. Aber auch hier musste sie Einbußen hinnehmen: „Früher haben wir hier zusammen mit dem Musikern experimentiert – seit das aber organisatorisch nicht mehr passt, ist damit Schluss. Dabei hat gerade diese Zusammenarbeit uns allen viel Spaß gemacht“, bedauert sie diese Entwicklung.

Herrin über ein Gesamtkunstwerk Bei ihren Inszenierungen kümmert sie sich grundsätzlich um alles selbst – um die Choreografie ebenso wie um die Zusammenstellung der Musik, die Kostüme, das Bühnenbild. „Es ist reizvoll, das alles beeinflussen zu können und ein Gesamtkunstwerk zu kreieren“, sagt sie nicht ohne Stolz, die kollegiale Zusammenarbeit mit dem Orchester ist ihr dabei stets ein besonderes Anliegen. „Alle Ballettabende haben wir live mit Orchester gespielt, vom Tonband kam die Musik nur beim Ballettstudio.“ Nach insgesamt 58 Jahren Bühne ist im kommenden Frühjahr aber jetzt jedoch endgültig Schluss, und Ingrid Burmeister wird sich mit dem Stück von ihrem Publikum verabschieden, mit dem sie sich vor 21 Jahren vorgestellt hat: „Manon“. Yarica von der Osten, ehemalige Neumeier-Schülerin, wird die Manon tanzen, Matthew Sly, ein vielversprechendes Tänzer-Talent, den Des Grieux. „Natürlich ist es jetzt eine andere Fassung als 1988“, sagt Ingrid Burmeister. „Wir schauen das heute mit anderen Augen, ich selbst stehe woanders, das macht sich bemerkbar.“ Neben „Undine“ und „Sommernachtstraum“ gehört „Manon“ zu ihren Lieblingsstücken, und die Zuschauer dürfen sicher sein, dass sie hier wieder einmal etwas sehr Besonderes erwartet. Alles, was in Lüneburg nach Ingrid Burmeister kommt, wird sich an diesen Maßstäben zu messen haben, und die Latte liegt hoch, sehr hoch. Die Meisterin selbst kümmert das dann nicht mehr – wenn man ihr glauben mag. Sie will sich dann mit ihrem Mann Ulrich Völker, einem ehemaligen Tänzer (und heutigem tanznetz-Korrespondenten), vor allem dem Reisen widmen, im Garten werkeln, und anderen Formen der Kultur frönen: „Ich möchte endlich auch mal unbeschwert viele Konzerte besuchen – Dinge tun, die mir bisher verwehrt waren, weil das Theater immer Vorrang hatte“, sagt sie, und ergänzt: „Es wird auch ohne das Theater gehen – schließlich war nicht alles immer eitel Sonnenschein, aber mit dem, was war, bin ich doch sehr zufrieden.“ „Manon“ am 13. Februar 2010, weitere Vorstellungen am 17. und 24. Februar sowie am 6./14./18./23./26./30. März und am 9./11./18./25./30. April 2010; „Ballettstudio 2010“ ab Mai www.theater-lueneburg.de

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