Einblick in ein Schöpferherz

Die 181. Ballettwerkstatt des Hamburger Balletts beschäftigte sich mit den Schöpferfiguren in Neumeier-Balletten

Hamburg, 27/01/2009

Üblicherweise nutzt John Neumeier die Ballett-Werkstätten um mit seiner charmant-natürlichen Art in ein Stück einzuführen, das in naher Zukunft Premiere feiert, oder um Hintergründe zu einer Wiederaufnahme zu erläutern. Für diesen Sonntag hatte er sich etwas anderes überlegt. Wer an diesem Morgen genauer hinsah und hinhörte, bekam einen sehr persönlichen Einblick in die Arbeit von John Neumeier als Choreograf, dessen Herz bedingungslos für die Bühne und die Tanzkunst schlägt.

Wer in seinem Leben mehr als ein Neumeier-Ballett gesehen hat, den beschleicht bereits eine leise Ahnung. Wer gleich mehrere oder gar alle Handlungsballette des Hamburger Intendanten gesehen hat, dem fällt schon ganz konkret auf, dass eine Figur in verschiedenen Abwandlungen immer wieder auftaucht. Eine Figur, die das Geschehen auf ganz bestimmte Art und Weise lenkt. Wie ein roter Faden ziehen sich diese Figuren durch das Werk von Neumeier und dies war für ihn auch der Anlass sich in einer Ballett-Werkstatt damit auseinander zu setzen. John Neumeier selbst nennt diese Rollen „Schöpferfiguren“ und versucht begreiflich zu machen, welche Bedeutung sie in seinen Werken einnehmen.

Sie alle reflektieren innerhalb der Handlung den Schöpfungsprozess des Kunstwerkes und damit den Entstehungsprozess der Choreografie auf einer anderen Ebene noch einmal. So weit so theoretisch – wirklich konkret wurden die Ausführungen erst dank der getanzten Beispiele. Und die führten zunächst weit in die Vergangenheit von Neumeiers choreografischer Arbeit zurück. Zurück zu seinem Nussknacker aus den frühen 70er Jahren und damit zu seiner ersten wichtigen Schöpferfigur: Drosselmeier. Im Zuge seiner radikalen Dekonstruktion des ursprünglichen Nussknackerballetts legte er damals Drosselmeier als Portrait von Marius Petipa an und rückte damit den Schöpfer des legendären Balletts in den Mittelpunkt der Bühnenhandlung.

Im Stangen-Pas de Deux zeigten Otto Bubeniček als Drosselmeier und Joëlle Boulogne als Ballerina Louise, wie sich Drosselmeier als Schöpfer im gemeinsamen Tanz in seine eigene Schöpfung verliebt. Fast noch stärker ist das folgende Bild, in dem Drosselmeier die kleine Marie (Hélène Bouchet) auf die Bühne führt, um ihr den Ort nahe zu bringen, an dem er tanzt und Tanz schafft. Ein kleiner, scheinbar unspektakulärer Moment, der aber allein in der Mimik all die Liebe zu dieser Kunst ausdrückt. Einer der Momente, in dem man meint auch John Neumeier in der Schöpferfigur Drosselmeier wiederfinden zu können. Denn dass ihn diese Figuren faszinieren, gibt er ganz offen zu und bestätigt weiterhin, dass er sich in den letzten Jahren und in seinen letzten Werken immer intensiver mit dieser Schöpferfigur auseinandergesetzt hat. Und das auf äußerst vielfältige Art und Weise. In „Die Möwe“, die 2002 uraufgeführt wurde und gerade in der Wiederaufnahme am Hamburger Ballett zu sehen ist, gibt es gleich zwei Schöpfer des Tanzes, die Neumeier kontrastierend gegenüberstellt. Da ist zum einen Kostja (Ivan Urban lieferte ein eindrucksvolles Solo), der revolutionäre Tanzvisionär und zum anderen ist da Trigorin, der konventionelle bis konservative Choreograf, der für sein Stück-im-Stück ausschließlich veraltete Ballettposen verwendet und damit beinahe parodistisch wirkt.

Wie sehr der Tanz-Schöpfer immer auch von seinem eigenen Leben und den Menschen, die es teilen, beeinflusst ist, zeigt Neumeier eindrücklich in seinem Pas de Deux aus „Nijinsky“, seinem Ballett, das anlässlich des Ballet-Russes-Jubiläums im März wieder auf den Spielplan kommt. Alexandre Riabko als Vaslaw Nijinsky und Ivan Urban als Serge Diaghilew wirken gerade in der ungeschminkten Situation der Ballettwerkstatt ohne Kostüm und vollständiges Bühnenbild im Zusammenspiel umso intensiver. Kein Werk allerdings beschäftigt sich mit der Schöpfungsfigur so eingehend wie „Der Tod in Venedig“. Gustav von Aschenbach (unglaublich emotional verkörpert von Lloyd Riggins) ist bei Neumeier kein Schriftsteller, sondern Choreograf. Und während zu Beginn der Werkstatt der Drosselmeier-Charakter in voller Liebe und Hingabe für den Tanz aufging, so kämpft diese Figur verzweifelt mit den Hindernissen der Tanzschöpfung. Alles in allem war es tatsächlich eine außergewöhnliche Ballettwerkstatt, wie John Neumeier es in seiner Einleitung angekündigt hatte. Eine Werkstatt, die seine Ballette dramaturgisch tiefgründig beleuchtet und gleichzeitig den Menschen Neumeier erlebbar gemacht hat. Denn dass er sich als Tanzschöpfer in all diesen Figuren widerspiegelt, daran besteht nach dieser Vorstellung kein Zweifel.

www.hamburgballett.de

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