Ein roter Tag im deutschen Ballett-Kalender

John Neumeier feiert 100 Jahre Ballets Russes und Nijinsky

oe
Hamburg, 19/05/2009

Exakt der 100. Jahrestag des Debuts der „Saison Russe“ des Diaghilew Balletts in Paris – der Tag der Geburt des modernen Balletts, für das Hamburg Ballett von John Neumeier die 90. Vorstellung seines Balletts „Nijinsky“ seit der Premiere an 2. Juli 2000. Die neunzigste! Für John Neumeier – wie alt er auch inzwischen sein mag – sicher einer der Red-Letter-Days seines Lebens, das von Anfang seiner Karriere an im Zeichen Nijinskys stand – mit der Krönung seiner Sammlung von Nijinskyana, die an diesem Tag erstmals in ihrem vollen Umfang mit zusätzlichen Leihgaben aus allen großen Nijinsky-Sammlungen der Welt in der Hamburger Kunsthalle unter dem Titel „Tanz der Farbe. Nijinskys Auge und die Abstraktion“ gezeigt wird.

Was dieser Tag für ihn bedeutet, wurde deutlich in der Ansprache, die er zur ihrer Eröffnung hielt. Nijinsky ist das zentrale Thema seines Lebens. Mit der Ausstellung reklamiert er den Ausnahme-Tänzer und den Ausnahme-Choreografen auch als Ausnahme unter den Bildenden Künstlern seiner Zeit – das heißt als einen eigenständigen Zeichner an der Seite der Abstrakten – und damit hinausgehend noch über seine Bedeutung als bahnbrechender Choreograf (insbesondere mit der Trias von „Jeux“, „L‘après midi d‘un faune“ und „Sacre du printemps“) als einen der Wegbereiter der abstrakten Kunst – durchaus künstlerisch ebenbürtig an der Seite solcher Zeitgenossen wie Alexandra Exter, Sonya Delauney und Frantisek Kupka, der mit seinen Zeichnungen die Choreografie in die Bildende Kunst überführte.

Es ist dies vielleicht die wichtigste Erkenntnis dieses Jubiläumsjahres – jenseits der überall gefeierten Ausstellungen (wie etwa in München), die als Retrospektive der Hinterlassenschaft der Ballets Russes in der ganzen Welt stattfinden. Darüber werde ich hoffentlich noch in nächster Zeit ausführlicher berichten können – diesmal reicht die Kraft dieses langen Tages dazu nicht mehr (um sechs Uhr in Stuttgart aufgestanden, mit dem ICE nach Hamburg, dort im Hotel angekommen gegen 15 Uhr, dann um sechs die Eröffnung der Ausstellung, um 20 Uhr Beginn der Galavorstellung bis um 22.30, im Hotel – ohne anschließenden Empfang – gegen 23 Uhr).

Die Vorstellung erwies einmal mehr den singulären Rang dieser Produktion als Modellfall des modernen Ballett-Theaters. Ein Höhepunkt der theatralischen Effizienz – als Kompanie mit allen ihren Solisten (erstmals wieder an diesem Abend die von ihrem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrte Anna Polikarpova als Romola Nijinsky und der zurückgekehrte Yukichi Hattori als Nijinsky-Bruder Stanislaw) und Alexandre Riabko in der Titelrolle – ein Charismatiker von Weltrang. Je besser man das Ballett kennenlernt, umso mehr bewundert man (ich), was Neumeier darin alles untergebracht hat: im ersten Teil so etwas wie eine historische Collage der Diaghilew-Kompanie bis zur Zäsur der Trennung von Nijinsky – und im zweiten Teil sodann die Phantasmagorie ihrer Weiterexistenz nach der Trennung von Nijinsky und dessen Existenz als Nicht-Tänzer.

Erstmals ging mir jetzt der geniale Einfall Neumeiers auf, den Anfang im zweiten Teil mit Rimsky-Korsakows „Scheharazade“ zu koppeln mit Schostakowitsch (sozusagen als russische Antwort auf Gustav Mahler). Tatsächlich erscheint mir „Nijinsky“ heute als Summe des kompletten Neumeierschen Oeuvres – seiner originären Ballettästhetik und seiner choreografischen Sprache. Ja, ich möchte so weit gehen, Neumeier als choreografischen Erfüllungsgehilfen Nijinskys und seiner theatralischen Vorstellungen zu bezeichnen. Was etwas ganz Anderes ist, als ihn als einen Erben oder Nachfolger Nijinskys zu reklamieren. Ich wüsste nicht, wo heute irgendwo in der Welt sonst ein schöpferischer Choreograf von seinem künstlerischen Anspruch tätig ist.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern