„Irgendwo kommt man immer her”

Ein Gespräch mit Susanne Linke

Berlin, 26/02/2009

Als Tänzerin, Choreografin und Pädagogin hat Susanne Linke die letzten drei Jahrzehnte deutscher Tanzgeschichte entscheidend mitgeprägt. Frank Weigand sprach mit der Künstlerin über ihr persönliches Verhältnis zur Tradition, den deutschen Tanzaufbruch in den 70er Jahren und die schwierige Unterscheidung zwischen Konzepttanz und Performance.

Redaktion: Eines der Hauptthemen im aktuellen zeitgenössischen Tanz ist der Tanz selbst. Auch bei jüngeren Choreografen gibt es eine Tendenz dazu, sich wieder verstärkt mit Tanzgeschichte zu beschäftigen. Woher kommt dieses Traditionsbewusstsein?

Susanne Linke: Das ist ja klar, dass die jungen Wilden auch eines Tages merken, wenn sie auf die 40 zugehen: Na hoppla, irgendwo kommt man her. Diese Frage stellt sich eigentlich jeder. Besonders wenn man eine gedankliche Kontinuität in seiner Arbeit haben möchte und nicht nur von einem Stück zum anderen gehen will. Das ist ja eine Arroganz von jungen Leuten, zu denken, dass man die Welt neu erfindet. Dabei ist es immer nur eine neue Zusammenstellung oder eine Herstellung von neuen Bezügen.

Redaktion: Welche Rolle haben Traditionen in Ihrer persönlichen Entwicklung gespielt?

Susanne Linke: Auch als junger Mensch habe ich die Tradition immer sehr geschätzt. Ich war ja in der Schule von Mary Wigman, die weiß Gott nicht mehr die Jüngste war. Und dass man da überhaupt hinging, war etwas Ungewöhnliches. Die Leute wussten gar nicht mehr, wer sie war, oder ob sie überhaupt noch lebte. Mich hat das einfach mehr angesprochen als Tutu und klassisches Ballett. Bei Mary ging es mehr um das Persönliche. Darum, dass jeder individuell etwas Eigenes schaffen kann. Sie hat ja keine Technik aufgebaut, kein System. Sie wollte keine Methode lehren. Es ging mehr um das innere Erleben dessen, was eine Bewegung aussagt.

Redaktion: Sie haben in Ihrer Ausbildung beide Seiten erlebt. Zuerst die freie Schule des Ausdrucktanzes und dann die strenge Ausbildung in Essen...

Susanne Linke: Die technisch strenge Ausbildung an der Folkwang-Schule. Das war das klassische Ballett. Und dann auch die modernen Techniken – was auch sehr technisch aufgebaut war. Das war ein ganz anderes System. Ohne Mary wäre ich nicht das, was ich heute bin. Denn Mary war für mich die geistige Muttermilch. Aber ohne Folkwang eben auch nicht.

Redaktion: Trotz Ihrer teilweise klassischen Ausbildung ging es in Ihrer Anfangszeit als Choreografin sehr stark darum, sich vom klassischen Ballett abzusetzen. Warum?

Susanne Linke: Von der Nachkriegszeit bis Anfang der 70er-Jahre war das klassische Ballett das einzige, was in Deutschland offiziell anerkannt wurde. Doch dann kam mit Kresnik, Gerhard Bohner, Pina Bausch und dem Tanzforum Köln eine Generation, die einfach etwas anderes wollte. Und da gehörte ich auch dazu. Wir wollten nicht mehr die üblichen Themen verwenden, die damals im Tanz benutzt wurden – Masse und Individuum, oder die weibliche Darstellung als Hexe, Hure oder Heilige. Sondern uns mit normalen Menschen beschäftigen.

Redaktion: Also ging es mehr um neue Themen als um eine Erneuerung der Form?

Susanne Linke: Wenn man etwas Neues schafft, heißt das nicht, dass man ablehnt, was man gelernt hat. Es geht darum, dass man mit altem Bewegungsmaterial neue Bezüge herstellt. Und wenn man länger an neuen Themen arbeitet, kommen so langsam auch neue Formen auf. Denn die Form ist abhängig vom Thema. Und wenn man andere Themen nimmt, die ungewöhnlich sind, dann kommen auch ungewöhnliche Formen heraus. Aber die kommen nicht sofort, sondern mit der Zeit.

Redaktion: Im heutigen zeitgenössischen Tanz ist der Wille zur Abgrenzung vom klassischen Ballett nicht mehr so stark...

Susanne Linke: Inzwischen gibt es die Einsicht, dass die klassische Technik einfach die beste Technik ist. Tanz ist nicht immer eine Frage der Energie, der lebt auch von der Form. Wenn man als Tänzerin oder Tänzer länger überleben will, muss man eine strenge Technik haben. Denn sonst gibt es Verletzungen, sonst wird es langweilig. Ebenso wie jeder Mensch braucht der künstlerische Mensch eine Herausforderung. Auch eine körperliche Herausforderung. Deswegen ist das klassische Ballett immer noch so stark und hat sich neu belebt.

Redaktion: Trotzdem gibt es nach wie vor viele zeitgenössische Choreografen, die ohne klassische Technik auskommen...

Susanne Linke: Ja, besonders diese Mode des Konzept-Tanzes, der ja eigentlich Performance ist und kein Tanz. Und Performance unterliegt anderen Gesetzen in Bezug auf Körpertechnik und Darstellung. Da muss man ein Konzept gar nicht durchführen. Man kann es nur ansetzen als Idee. Dabei ist das Schwierige die Durchführung. Einen guten Text kann ich in ein oder zwei Wochen schreiben. Aber in zwei Wochen die Technik in den Körper zu kriegen, das geht nicht.

Redaktion: Trotzdem haben Sie 1998 einem der berühmtesten „Konzept-Choreografen”, dem Franzosen Jérôme Bel, Ihr Solo „Wandlungen” für sein Stück „The last performance” anvertraut...

Susanne Linke: Viele dieser Konzeptkünstler langweilen mich. Aber Jérôme Bels Arbeiten sind sehr intelligent und ernsthaft. Ich hatte schon zwei seiner Stücke gesehen, sonst hätte ich das gar nicht erlaubt. Er und seine drei Tänzer hatten ein Video von „Wandlungen” gesehen und sich gedacht, sie könnten diesen Tanz einfach mal lernen. Aber es fiel ihnen so schwer, dass sich sich darüber fast zerstritten haben. Das sieht so leicht aus, dabei ist es das schwierigste Solo, das ich je getanzt habe. Man muss ein passionierter Masochist sein, um das durchzustehen. Und das hatten sie natürlich nicht gedacht. Also hat er mich angerufen. Und dann bin ich nach Paris gefahren und habe drei Tage lang mit ihnen gearbeitet. Die haben Blut und Wasser geschwitzt. Und nachher waren sie so glücklich. Und der Respekt war gestiegen. Sie haben gesagt: So viel haben wir noch nie gearbeitet. Das ist eben Tanz im alten Stil. Wie bei Pina Bausch. Das hat man nicht in drei Tagen oder in einem halben Jahr. Das dauert das ganze Leben.

Redaktion: Aber viele junge Tänzer sind heute anders trainiert.

Susanne Linke: Ja, da geht es nur um Lockerheit. Die haben alle keine Aura, nichts Magisches. Die sehen so unbedarft aus. Sie machen, aber haben überhaupt keinen Subtext. Ich habe bei meinen Tänzern immer sehr darauf geachtet, dass man seine eigene Welt hat und seine eigene Beziehung zur Bewegung herstellt. Mary hat immer sehr darauf geachtet, dass alles einen Sinn haben musste. Die Wigman-Tänzer, die sahen nie dumm aus.

Redaktion: Wir haben jetzt viel über den Umgang mit Vergangenheit gesprochen. Blicken Sie auch in die Zukunft?

Susanne Linke: Was heißt Zukunft? Es ist schon schwierig genug, in der Gegenwart zu bestehen. So lange die Intendanten der Stadttheater immer noch von Oper, Schauspiel oder Regie herkommen und Männer sind, wird der Tanz immer das fünfte Rad bleiben. Und es wird alles rückgängig gemacht, was Bohner und Kresnik mal angefangen haben. Alles, was wir in diesen 30 Jahren erkämpft haben. Dass der Tänzer nicht nur schmückendes Beiwerk für Operette und Oper ist. Dass der moderne Tanzchoreograf nicht die Verpflichtung hat, auch Operetten zu machen. Dass die Tänzer besser bezahlt werden. Das geht jetzt alles wieder zurück. Deshalb hatte ich Ende der 90er-Jahre die Vision eines choreografischen Zentrums, das nur für Tanz zuständig ist. Und das habe ich durchgezogen. Ich war dann die erste designierte künstlerische Leitung des Choreografischen Zentrums in Essen, aber das wurde schnell wieder geändert. Die üblichen Machtspiele...
Der Text erschien ursprünglich in: Die Deutsche Bühne 02/09 (www.die-deutsche-buehne.de)

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