Das Épaulement

Praktische und theoretische Beleuchtung eines fundamentalen Phänomens

München, 17/01/2009

Die Bayerische Staatsoper ermöglicht in ihrer neuen Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Die unmögliche Enzyklopädie“ ihren Zuschauern, zentrale Begriffe des Musiktheaters zu erkunden. Nun beteiligte sich das Staatsballett im Rahmen von „Ballett extra“, wo man den Zuschauern meistens Aspekte der aktuellen Arbeit im Probenstudio erklärt und demonstriert, mit großem Aufgebot, denn Dramaturgin Bettina Wagner-Bergelt wählte einen vielseitigen und weitreichenden Ansatz.

Es begann im ausverkauften Wernicke-Saal mit Terence Kohlers kürzlich uraufgeführten Finalstück des dreiteiligen Programms „100 Jahre Ballets Russes“: Wohl über 20 Tänzer füllten den langen Raum zwischen den sich gegenüberstehenden Zuschauerreihen mit Zitaten aus klassischen Balletten. Dass die Technik aussetzte und Maria Babanina den Anfang von Tschaikowskys 6. Symphonie am Flügel sogleich live spielte, verlieh dem Ganzen zusätzlich den Charme eines Workshops. Mit dem langsamen Eröffnungsbild aus „Once Upon An Ever After“ gelang ein effektiver Auftakt, denn obwohl die Bewegungen keineswegs spektakulär waren, stand nun gleich die Frage im Raum, warum der Anblick so vieler Tänzer mit „sprechenden“ Oberkörpern faszinierte. Der Mitteilung zufolge, dass – wie Neurologen messen konnten – die Ströme im Hirn derer, die Tanz betrachten, und die im Hirn der ihn ausführenden Tänzer dieselben sind, scheint totale Empathie ja möglich. Doch zunächst zeichneten Bettina Wagner-Bergelt und Ivan Liska die Verwirrung nach, die das gewählte Schlagwort auslöst, indem beide im Wechsel eine Internetdiskussion über das Wesen des Épaulements verlasen, Sätze wie: „Das Épaulement ist vielleicht nicht immer ein klassisches Épaulement, aber auf jeden Fall ein energischer Einsatz der Schultern.“ – „I´m not sure what they call it in modern ballet.“

Dass es auch im modernen Tanz wirkt, bewies Norbert Graf mit dem Eröffnungssolo aus Simone Sandronis „Cambio d´abito“. Eindrucksvoll auch Zuzana Zahradnikova und Olivier Vercoutère in ihrer Improvisation nach Regeln William Forsythes, der Bewegung und Épaulement mit allen denkbaren Verschiebungen in den Raum verlagert. Dann begann Prof. Alexander Ursuliak, ehemaliger Leiter der Stuttgarter John-Cranko-Schule, als erster Gast seine performativen Erläuterungen mit Menuetten aus der Zeit Katharina de Medicis, legte dar, wie Ludwig XIV. den strikten Umgang mit dem Tanz etwas auflöste und Lully einlud, den Glanz des Hofes zu inszenieren, wie man über die Einteilung des Raumes in acht Richtungen die Terminologie dafür fand, in welche Richtung sich der Körper mit wechselnder Koordination des Port de bras und der Fußstellung bewegen muss, streifte auch die Frage, ob „Épaulement“ in späterer Zeit nicht eher die individuelle Fähigkeit bezeichnet, das Kantilenenartige der Musik sichtbar zu machen, und kam schließlich auf die Bedeutung des Appui, der Stütze aus den Beinen, zu sprechen, denn wer fester steht, kann mehr mit seinem Oberkörper drehen, und das erlaubt die Freiheit in den Schultern. An uns Normalmenschen gerichtet: „Gehen Sie auf der Straße mit Stütze, und Sie sehen besser aus, bekommen weniger Rückenprobleme und sehen die Welt mit anderen Augen!“ – Erhellend war auch eine Demonstration der jungen Ilana Werner, Münchens neuer Julia, die von Ballettmeisterin Judith Turos zu einer Sequenz für Anfänger und einer für sehr Fortgeschrittene angeleitet wurde, besonders, weil Ivan Liska als Advocatus Diaboli hinzusprang und bat, dasselbe ohne Appui und Épaulement zu wiederholen. Alle Bewegungen von Rumpf, Kopf, Armen und Beinen waren klar wiederzuerkennen, bleiben aber ohne die betonte Spannung der Schultern nichtssagend und langweilig. Schön, dass Ilana Werner danach erneut zeigen konnte, wie gerade eine Adagio-Bewegung, durch Épaulement entschieden ausgerichtet und mit der richtigen Spannung geführt, das ästhetische Gefühl der Zuschauer umschmeichelt.

Ein Film zeigte überlebensgroß die kraftvolle Armführung der vier Männer in Hans van Manens „Große Fuge“, dann in „Concertante“ sein neues, hochgeworfenes Épaulement. Dessen spezifische Ausprägung lernte man auch bei Mats Ek, Saburo Teshigawara und Jirì Kylián kennen, der es in „Bella Figura“ aus dem Alltag nahm, wo sich die Angst in hochgezogenen Schultern ausdrückt, die dann der Partner löst. Doch bildeten, nachdem man für die Wahrnehmung des Épaulements facettenreich sensibilisiert war, zwei klassische Variationen den Höhepunkt der filmischen Demonstration. Entfaltet das Épaulement doch in der Klassik die architekturbildende Prägung des Tänzerkörpers, und dessen Formbewusstsein wirkt in jeder Variante modernen Tanzes positiv. Zuerst kam eine Variation der romantischen Giselle, getanzt von Lisa-Maree Cullum, in der die gesamte Körperspannung mit so schnellen Schrittkombinationen koordiniert war, dass es die geschärften Sinne faszinierte.

Dann sah man Natalia Kalinichenko die Auftrittsvariation Auroras tanzen, und Bettina Wagner-Bergelt kommentierte, was sie auf die Idee gebracht hatte, dem Épaulement einen Themenabend zu widmen: Wie die Tänzerin die Treppe herunterkommt, mit dem Épaulement ihre Seele, deren Sitz wir hinter der Brust vermuten, öffnend und bescheiden, aber alles in Besitz nehmend und erzählend: Wo sind meine Liebhaber, meine Eltern und mein Glück – wo die mehr als 2.000 Zuschauer, die sich von meinem Zauber und seiner musikalischen Qualität gern in Besitz nehmen lassen? Den auch in seiner Medienvielfalt von Bettina Wagner-Bergelt exquisit konzipierten Abend schloss die Intervention des Verhaltensforschers Dr. Walter Siegfried ab, der mit einer Powerpoint-Präsentation von Platons „Timaios“ über Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ bis zu heimlich gefilmten Beobachtungen des Münchner Alltags der „Lust des Laien am Épaulement“ nachging. So verließ man die Veranstaltung, die einen weit größeren Rahmen verdient hätte, spürbar aufrechter als sonst und animiert, einen der wichtigsten Qualitätsfaktoren des Tanzes künftig bewusster zu erleben.

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