Die Mischung macht’s

Die Bühnentanzpädagogin Isabell H. beim Besuch im Ballettgymnasium Essen-Werden

Essen, 14/10/2009

Von Isabell H. - Bühnentanzpädagogin für Klassischen Tanz

Es ist ein sonniger Augustnachmittag 2009, als ich, begleitet von Patricia Kapp- Ballettpädagogin am Gymnasium - den Alten Bahnhof Essen-Werden betrete. Zunächst einmal werden mir die wunderbar freundlichen, hellen und großzügigen Säle des Gebäudes vorgestellt, hier und da huschen ein paar kleine Mädchen in ihren hellblauen und weißen Balletttrikots durch die Gänge, die jüngsten Eleven bereiten sich auf ihr anstehendes Training vor. Es geht hoch in die obere Etage, wo mir der Ruhe- und Aufwärmraum, Lehrerzimmer und Sekretariat sowie die Schülerküche und das Hausaufgabenzimmer gezeigt werden. Auch dabei begegnet man immer wieder höflich grüßenden Ballettschülern und ich werde den einzelnen Lehrkräften vorgestellt. Überhaupt herrscht im Alten Bahnhof eine Atmosphäre von Offenheit und Großherzigkeit, jedoch auch von harter Arbeit und Fleiß.

Der erste Unterricht, dem ich beiwohne, wird von Fachbereichsleiter Heinz Loigge für Schüler der Klassenstufe 9 und 10 abgehalten. Gerade noch rechtzeitig eilt ein Mädchen in den Saal. „Ah, du hast dieses Schuljahr bis zur 8. Stunde Unterricht!“, stellt Heinz Loigge fest. Die Schülerin, welche zwei Gymnasialklassen überspringen konnte, bejaht. „Dann müssen wir den Stundenplan anpassen, so dass wir montags immer 15 Minuten später mit Klassisch beginnen“, schlussfolgert der Ballettpädagoge.

Auch das gibt es am Gymnasium Essen-Werden: Die Möglichkeit, eine andere Schul- als Ballettklasse zu besuchen, damit die individuelle Begabung, ob nun im Tanz oder in der allgemeinbildenden Schule, unterschiedlich gefordert und gefördert werden kann. Die Entwicklung des Stundenplans, passend für ca. 120 Eleven, verlangt daher jedes Schuljahr ein enormes Maß an Engagement und Organisationstalent der Tanzpädagogen.

Der Unterricht beginnt, Heinz Loigge legt seine Mappe mit Unterrichtsvorbereitungen auf den Flügel, die Schüler stehen aufmerksam bereit und schon zu Anfang der Stunde eröffnet ihnen der Dozent ein wichtiges Thema des heutigen Trainings: „Überprüfe immer wieder dein Standbein! Nicht zu viel Gewicht auf die Ferse, man muss allzeit bereit für die halbe Spitze sein!“ Dieser rote Faden zieht sich durch das komplette, stark am Vaganova-System orientierten, jedoch mit Loigges ganz eigener Handschrift versehenen Training, ebenso wie das korrekte Schleifen des Fußes, sprich das Nutzen des Bodens sowie das Aktivieren der gesamten Fußmuskulatur. Konzentriert wiederholen die Schüler erneut ihre sieben battements tendus jetés derrières auf vier Zählzeiten. „Die Zehen entspannen beim Einschließen, aber nicht der Spann des Fußes,“ beharrt Hr. Loigge. „Besser! Lediglich das Tempo macht euch noch zu schaffen.“ Nach kurzer Dehnpause geht es weiter mit der Arbeit in der Mitte, auffallend ist hier, wie häufig der Bezug oder auch die Gegenüberstellung zum Modernen Tanz hergestellt wird. Auf Bewegungsmuster, die ähnlich, identisch oder gar konträr ausgeführt werden, wird von Loigge hingewiesen, wo es sich als sinnvolle Korrektur und Hilfestellung im Klassischen Tanz anbietet. Dies ist in Hinblick auf das heutzutage vielseitige Arbeitsfeld eines Tänzers als äußerst wertvolle Unterrichtspraxis anzusehen.

Überhaupt ist festzustellen, dass die Schüler des Ballettgymnasiums „mitdenken“ sollen, sie werden dazu aufgefordert zu analysieren und Lösungen zu finden. Immer wieder stellt Heinz Loigge die Frage: „Habt ihr verstanden, ist das klar?“ Die Schüler reagieren zwar anfangs etwas zurückhaltend, jedoch erkennt man, dass dies wohl lediglich mit meinem Unterrichtsbeisitz zusammenhängt. „Na, ihr redet aber sonst mehr! Nur weil Besuch da ist, braucht ihr nicht verlegen zu sein.“ Die Eleven lächeln und Nikolas, der einzige Junge der Klasse, antwortet schließlich deutlich.

Auch auf den unterstützenden Einsatz der Arme - wieder einmal ist hier deutlich eine Grundlage der russischen Schule zu erkennen - legt Loigge großen Wert, ebenso auf unterschiedliche Neigungen und Kopfhaltungen. „Die Arme führen leicht über unten in die 1. Position. In der 2. Position den Arm etwas senken und danach folgt das allongé!“. „Die Rippen müssen hierbei führen“, erklärt er, „andernfalls wirkt das viel zu steif!“ „Beachtet den Kopf bei pas de bourrée en tournant en dehors, der dreht nicht gleich weg.“ Die Schüler nehmen die Korrekturen Loigges schnell auf und jeder einzelne Eleve übt immer wieder selbständig, überprüft sich kritisch. In der Luft liegt jedoch keine Spur einer ängstlichen Atmosphäre, sondern vielmehr spürt man den Willen, Ehrgeiz und Enthusiasmus der Gymnasiasten.

Nach dem Training bietet mir Herr Loigge die Möglichkeit, Fragen zu seinem Unterricht zu stellen und es entwickelt sich ein äußerst konstruktives Gespräch, woraus ein Fachsimpeln über die Verwendung einzelner Balletttermini und methodische Grundsätze des klassischen Tanzes resultiert. Es wird deutlich: zwischen den Tanzpädagogen am Gymnasium Essen- Werden findet reger gegenseitiger Austausch statt, man steht neuen Sicht- und Denkweisen offen gegenüber, was meines Erachtens nach als fundamentaler Grundstein für ein gut funktionierendes Kollegium gilt. In unserer Unterhaltung sprechen wir auch über Fortbildungen, die das gesamte Lehrerteam zuletzt bei Prof. Martin Puttke besucht haben und schließlich über die Arbeit der privaten Ballettschulen in Deutschland, mit denen sich der Fachbereichsleiter eine bessere Kooperation wünschen würde.
Für mich geht es nun weiter zum nächsten Unterricht. Répertoire bei Patricia Kapp erneut mit Klassenstufe 9 und 10 steht auf dem Plan. Zur kommenden Schulaufführung 2010 soll das Divertissement aus Paquita gezeigt werden. Jetzt gerade zu Beginn des Schuljahres muss zunächst einmal die Choreografie einstudiert werden, bevor wie üblich mit dem Putzen und Feilen begonnen werden kann.

Ein junges koreanisches Mädchen sticht immer wieder hervor, sie ist ganz frisch aus ihrem Heimatland nach Essen gekommen und freut sich, ihren neuen Kameradinnen hier und da behilflich sein zu können, denn der Zufall will es: Paquita – ein häufig von Ballettakademien aufgeführtes Petipa-Werk- hat sie bereits an ihrer alten Schule gelernt. Zwar fehlen ihr noch Deutschkenntnisse, jedoch stellt auch dies kein Hindernis für das Gymnasium Essen-Werden dar, der Sprachkurs ist bereits organisiert, der ebenfalls aus Korea stammende Pianist und eine Landsmännin in der Gymnasialklasse unterstützen zusätzlich.

„Das cabriole ist parallel, richtig folkloristisch, jetzt dürft ihr ausnahmsweise einmal eindrehen!“, erklärt Patricia Kapp. Der letzte Teil des Unterrichts dient zur Wettbewerbsvorbereitung einer ausgewählten Schülerin, wenngleich ihre Kameradinnen freiwillig die Choreografie mitlernen, auch sie können schließlich davon profitieren. Frau Kapp hat sich für die Swanilda-Variation aus dem 1. Akt aus Coppélia entschieden, eine technisch wie auch konditionell nicht zu unterschätzende Herausforderung, der sich die 14-Jährige jedoch erstaunlich konzentriert und mutig stellt.

„Hast du grand fouetté italien schon gelernt?“, fragt die Dozentin. Das Mädchen schüttelt den Kopf, merkt aber zaghaft an, dass sie diesen Schritt bereits alleine im Saal probiert habe. „Na also, dann lass mal sehen! Wenn es nicht klappt, gibt es auch eine andere Version!“, merkt Patricia Kapp an und deutet bereits die Alternativ-enveloppés à al seconde und pirouettes en dehors an, wie sie so häufig in Variationen angewendet werden, um die Solistin bestmöglich zu präsentieren – gleiches gilt bekanntlich für Rechts- und Linksdrehversionen. Doch siehe da, die fouettés gelingen für den ersten Versuch verblüffend gut! Dies ist zum einen auf die Begabung der Schülerin, zum anderen auf die gründliche und hervorragende Vorarbeit der Pädagogen zurückzuführen. Allgemein lässt sich an Kapps Vorgehensweise erkennen, dass sie ihren Elevinnen und Eleven Mut macht und sie dazu auffordert, abwägbare Risiken einzugehen, um sie behutsam an ihre Leistungsgrenzen heranzuführen.

Auch beim Unterricht mit Jungen und Mädchen der Klassenstufe 12 und 13 von Patricia Kapp kann ich zuschauen. In dieser Stunde ist ein deutlicher Einfluss der französischen Schule zu beobachten. Ein Schüler hat Schwierigkeiten mit seiner Platzierung. Nach Beenden der Musik fragt Frau Kapp: „Was meinst du, was war das Problem?“ „Das Zentrum.“, stellt der Junge richtig fest. „Genau, das Zentrum war der Kern des Fehlers und ist generell sehr häufig die richtige Antwort auf eine Frage. Und was bedeutet jeter? So etwas ist auch wichtig für die Klausur!“, möchte die Dozentin außerdem wissen, denn Leistungskurs Tanz bedeutet nicht ausschließlich Praxis, sondern selbstverständlich auch schriftliche Prüfungen, in denen die Abiturienten ebenso ihre tanzhistorischen und theoretischen Kenntnisse unter Beweis stellen sollen.

Das Training ist gekennzeichnet durch eine lockere, dennoch sehr konzentrierte Arbeitsatmosphäre, man merkt den jungen Menschen keinerlei Verkrampfung oder Verbissenheit an, sondern vielmehr ihre Freude am Tanz, den Genuss der Bewegung sowie den Ehrgeiz, sich künstlerisch und technisch zu verbessern. Die Dozentin formuliert ihre Anweisungen sehr konkret, bündig und prägnant, denn unnötige Informationen sollen den Schüler nicht vom eigentlichen Ziel ablenken. Weniger das Wie, dafür eher das Was stehen im Vordergrund.

Am Ende des Tages schaue ich noch kurz in den Unterricht Françoise Kans hinein. Die Mädchen der Klassen 12 und 13 befinden sich momentan bei der Spitzenarbeit. Voller Elan und Präzision demonstriert die französische Dozentin eine musikalisch etwas tückische Kombination, die Schnelligkeit der Schülerinnen, aber auch die rasche Auffassungsgabe wird auf die Probe gestellt. „Der Akzent ist einmal oben und dann zweimal unten.“ Die Schülerinnen wiederholen ihre pas échappés selbständig.

Man merkt sofort, Frau Kans Unterricht besticht durch Konsequenz, aber auch Geduld gegenüber ihren Schützlingen sowie die typisch französische Beinarbeit. Wieder und wieder demonstriert sie exakt, was sie jetzt von den Mädchen erwartet, sie nimmt sich jeden Schüler einzeln vor, bis die Schritte sitzen.

Auch der Vergleich unterschiedlicher methodischer Systeme wird von der Ballettlehrerin angesprochen. „Das retiré jetzt genau vor dem Knie anlegen, es gibt dabei natürlich verschiedene Möglichkeiten, aber ihr müsst alles beherrschen. Ihr sollt auf jegliche Form vorbereitet sein und immer auf jene Version zurückgreifen können, die der jeweilige Dozent von euch gerade verlangt.“, betont Kan, während sie die verschiedenen Positionen präzise vorzeigt. In der Mitte des Saals werden schließlich pirouettes ausgeführt. „Habt keine Angst! Wenn ihr nur eine Drehung macht, braucht ihr kaum Schwung. Der Unterschenkel legt schnell an und das ist alles, es dreht von selbst! Jetzt double tour und ganz gleich, ob es misslingt, bleibt trotzdem präsent, zeigt Stolz, lasst es euch nicht anmerken!“

Nach der Stunde führen Frau Kan und ich eine Unterhaltung über die Zielsetzung des Ballett-Gymnasiums Essen-Werden: Das Konzept der Vorausbildung und Vorbereitung auf die Fortsetzung der Tanzausbildung an einer Berufsfachschule oder nach dem Abitur mit LK Tanz als Bachelor-Studiengang an einer Hochschule einerseits, die Schule fürs Leben andererseits, denn lange nicht jeder Eleve wird den Weg des professionellen Tanzes gehen. Dafür finden Beratungsgespräche mit den Fachlehrern statt.

Mir fällt auf, wie enthusiastisch alle Schüler an sich arbeiten, aber auch wie gut sie ihre Chancen, Leistungen und Grenzen einschätzen können. Fest steht, dass auch jene jungen Menschen, die nach dem Abitur eine andere Laufbahn einschlagen, von dem jahrelangen Training für ihren weiteren Lebensweg profitieren. Disziplin, Teamarbeit und Eigenverantwortung, zielorientiertes Arbeiten, Kritikfähigkeit, Willenskraft, Durchhaltevermögen und ein hohes Maß an sozialer Kompetenz sind in Fleisch und Blut übergegangen.

Das zeichnet sich nach dem Besuch in Essen-Werden für mich ab: Ganz gleich, ob hier ein Schüler über ausgezeichnete oder weniger geeignete körperliche Voraussetzungen für den Tanz verfügt, am Ballettgymnasium werden alle Jugendlichen mit demselben Einsatz, Hingabe, Engagement, Bemühen sowie Liebe zum Tanz von den Pädagogen unterrichtet. Ob jemand zu einem wettbewerbsfähigen Tänzer heranwachsen wird, lässt sich in manchen Fällen sehr früh prognostizieren, dennoch nie garantieren, wenngleich es auch immer wieder Ausnahmen geben mag, die sich erst spät als Talent entpuppen. Definitiv werden die Schüler verantwortungsvoll darüber aufgeklärt, wo sie konkret stehen, wo ihre Stärken und Schwächen liegen und welche Potentiale noch ausbaufähig sind.

Einige begabte Jugendliche entscheiden sich auch gegen das Abitur und setzen direkt nach der mittleren Reife und bestandener Aufnahmeprüfung ihre Ausbildung an einer der staatlichen Ballettakademien im In- und Ausland fort. Neben einer soliden Vorausbildung und möglicherweise auch Teilnahme an internationalen Wettbewerben, nehmen sie auch Bühnenpraxis-Erfahrungen durch Mitwirken bei Vorstellungen des Aalto-Theaters mit an ihre zukünftige Ausbildungsinstitution.

So schlussfolgere ich nach diesen eindrucksvollen und aufschlussreichen Hospitationen im Alten Bahnhof: Die Mischung ist es, die die Ballettvorausbildung des Gymnasiums Essen-Werden so besonders macht! Seien es die verschiedenen Methoden, die in der Unterrichtspraxis angewendet werden - ein Training nach Vaganova oder eher angelehnt an die französische Schule – die Begegnung mit potentiellem Tanznachwuchs oder auch mit Jugendlichen, die den Tanz aus großer Leidenschaft als Leistungskursfach belegen, danach einen anderen Beruf ergreifen und ihre Jahre in Essen-Werden als wertvollen Lebensabschnitt zu schätzen wissen. Ich freue mich schon auf den nächsten Besuch und bin neugierig auf die Weiterentwicklung dieser bemerkenswerten pädagogischen Arbeit.
 

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