Antike, Appia und Ausdruckstanz

Daniel Goldins neues Stück "orchēstra"

Münster, 08/06/2009

„Wir wollen auf der Bühne die Dinge nicht mehr so sehen, wie wir wissen, dass sie sind, sondern so, wie wir sie empfinden“, schrieb der Schweizer Theatertheoretiker und „Bühnenentwerfer“ Adolphe Appia um 1900. An Beispielen des antiken Theaters und an Richard Wagners Werk probte er seine Vision zeitgemäßer Inszenierungen durch das Zusammenspiel der Bühne mit Sprache, Musik, Bewegung und Licht. Stilisierte strenge Architekturen sollten durch Beleuchtungseffekte zu „rhythmischen Räumen“ werden, wie er sie für Jaques Dalcroze in Hellerau schuf. Aber erst das Neu-Bayreuth Wieland Wagners verwirklichte Appias Ideen mit letzter Konsequenz.

Heute ist „Lichtdesign“ längst unverzichtbarer Bestandteil jeder Bühnenausstattung, und Daniel Goldins poetisch-melancholische Choreografien gewinnen seit Jahren ein Gutteil ihrer stimmungsvollen Atmosphäre durch die Lichtgestaltung von Reinhard Hubert. Ausgerechnet diesmal, in Daniel Goldins 25. Choreografie für Münster, „orchēstra“ („Tanzplatz“ im antiken Theater), wirkt sie harsch im Wechsel von hell und dunkel, lässt Farbspiele und Zwischentöne vermissen. Möglicherweise musste Rücksicht genommen werden auf die Streicher aus Münsters Symphonieorchester, die hinten auf der Bühne den Tanz um drei mythische Gestalten – Sisyphos, Niobe und Odysseus – mit Kompositionen von Schostakowitsch, Mansurian und Lutosławski kammermusikalisch begleiten.

Goldins langjähriger Bühnenbildner Matthias Dietrich flankiert den Raum mit weißen Marmorwänden im ersten und schwarzem Granit im zweiten Teil. Fast unmerklich öffnen sich zwischendurch die Wände wie zu Grabkammern. Tatsächlich erscheinen im zweiten Teil dann auch alle Tänzer völlig weiß gekalkt, in weiße Tücher oder Mäntel gehüllt wie Leichname, posieren und erstarren zu steinernen Skulpturen oder Reliefs. Gefühle sind kaum je auszuzmachen und nur knappste Bezüge zu den Mythen – weder bei der barfuß in bunten Kleidchen und Anzügen wippenden, wogenden, hüpfenden, sich selbst abtastenden Gruppe im ersten Teil (Sisyphos, Niobe) noch – eher verständlich – später im „Totenreich“ (Odysseus). Nur Alice Cerrato läßt als Niobe den namlosen Schmerz über den Verlust ihrer Kinder spürbar werden, und Matthias Schikora als Odysseus reckt die Hände weit nach vorn in Sehnsucht nach der Heimat. Dass eine Tänzerin des zehnköpfigen Ensembles bei der Premiere wegen einer Verletzung nicht auftreten konnte, brachte die Choreografie zwar anfangs in symmetrische Schieflage, fiel jedoch sonst nicht gravierend ins Gewicht im Verlauf dieser handlungslosen Reihe von Ausdruckstanz-Sequenzen im Wechsel von Gruppe und Solo. Zurück blieb der Eindruck von einem kopflastigen Konstrukt, fast einer tanztheatralischen Lehrstunde.

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