Wie aus dem Kabinett des Dr. Caligari

Stephan Thoss choreografiert „Professor Unrat“ nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann

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Wiesbaden, 28/06/2008

Als erste große abendfüllende Kreation für Wiesbaden hat Stephan Thoss „Professor Unrat“ nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann choreografiert – einen Ballett-Zweiakter, 125 Minuten lang (Pause inklusive), und sich dafür von einigen durchaus geschätzten Kollegen eine vernichtende Niederlage eingehandelt (die negativen Kritiken sind im Kassenraum ausgehängt !!!). Ihrem Urteil schließe ich mich nicht an – einmal, weil dies hier keine Kritik ist, sondern ein Journal, also die sehr persönlich gehaltenen Reflexionen eines Tagebuchschreibers, zweitens, weil ich es für ausgesprochen entmutigend halte, einen Neustart derart in Grund und Boden zu verdammen. Und einen entschiedenen Neustart hat der Wiesbadener Intendant Manfred Beilharz nach den langen Jahren der Ära von Ben van Cauwenbergh gewagt (und ist dafür von einem Teil des Wiesbadener Stammballettpublikums empfindlich gestraft worden – mal sehen, wie die sehr verwöhnten Essener nach Puttke auf van Cauwenbergh reagieren werden).

Dazu ist vorweg zu sagen, dass auch ich diese Produktion für misslungen halte. ABER! Nicht etwa, weil ich der Meinung bin, dass man einen Roman nicht vertanzen kann (wie sähe das heutige Repertoire aus ohne Crankos „Onegin“ nach Puschkins Roman in Versen). Dass man es kann, hat Roland Petit bewiesen (1985 an der Deutschen Oper Berlin, mit sich selbst als Professor Unrat und Natalia Makarova in der Rolle der Lola) – auch wenn dabei etwas ganz Anderes herausgekommen ist als „Das Ende eines Tyrannen“, wie der Roman im Untertitel heißt. Sondern weil Stephan Thoss´ persönlicher Stil dem Stil Heinrich Manns (in diesem Roman) konträr entgegengesetzt ist.

Stephan Thoss´ choreografische Handschrift ist so eigengeprägt wie die keines anderen seiner ungefähr gleichaltrigen Kollegen – kein Schläpfer, kein Spuck, kein Goecke – und auch Übernahmen von Kylián, van Manen oder Forsythe sind ihm nicht nachzuweisen, geschweige denn Balanchine. Das macht seine Herkunft aus dem Dresdner Palucca-Bunster-Limón-Mix. Es ist ein Stil, der ganz auf Bewegungsexzentrik programmiert ist, extrem bewegt, so dass man ihn für verzappelt halten kann – wie bei einem hyperaktiven Kind – gespreizt und eckig. Ein Stil, der beständig in den Raum explodiert. Ja, wenn Wedekind den Professor Unrat für den „Simplizissimus“ geschrieben hätte oder Hugo Ball für die Zürcher Dadaisten! Bei Thoss kam ich mir wie in ein „Kabinett des Dr. Caligari“ versetzt vor. Bei Heinrich Mann ist aber alles eng und muffig und stocksteif – norddeutsch, provinziell und miefig – kasernenhofmäßig und schulklassendiszipliniert: eine Apotheose des spießbürgerlichen Wilhelminismus.

Eine ähnliche stilistische Diskrepanz hat mich bei Thoss in seinem „Schwanensee“ zwischen seinem choreografischen Vokabular und der Musik gestört (seine „Giselle“ habe ich mir lieber gar nicht erst angetan – und Gott bewahre mich davor, jemals mit einer Mozart-Choreografie von Thoss konfrontiert zu werden). Dabei halte ich ihn für einen ausgesprochen musiksensiblen Mann. Weswegen mir auch seine Musikwahl in vielen Fällen unbegreiflich scheint (wie hier Lutoslawski und John Adams – plausibler dagegen die Entscheidung für Alban Bergs „Lulu“-Suite als Finale, wenn auch kein Wort der beteiligten Sängerin zu verstehen war). Man weiß nachgerade, dass ich von solchen Musikklitterungen nichts halte (wie auch im Falle von Spucks „Leonce und Lena“ oder auch, mir erst jetzt bekannt geworden, bei Peter Breuer, der sich für seine „Alceste“ bei Bach, Schubert, Mahler und Adams bedient hat). Das unselige Erbe der Lanchbery-Mackerras-Praxis (begünstigt durch die leichte Musikverfügbarkeit im Zeitalter der elektronischen Medien). Im Übrigen stelle ich fest, dass das Orchester des Hessischen Staatstheaters unter Wolfgang Ott den schwierigen Kompositionen – und gerade auch Alban Berg, den man natürlich besonders gut kennt – vollauf gerecht geworden ist.

Wie ich denn der Ensembleleistung der Solisten und des Corps de ballet meinen Respekt zolle. Die tanzen ihren Thoss wirklich, als wäre ihnen der schon auf der Schule eingebläut worden. Mit einem Engagement, als wollten sie dem Publikum beweisen, dass sie trotz der Verrisse voll auf ihren Stephan eingeschworen sind. Eine bewundernswerte Gemeinschaftsleistung! Es ist eine schwierige und ungemein reiche Choreografie, die ihnen da abverlangt wird, und in die sie sich tollkühn hineinstürzen. Der Haupttänzer, der den Professor Unrat tanzt, Sandro Westphal, ist viel zu jung, sieht zu gut aus, und er tanzt wie aus der Pistole geschossen – doch die tragische Dimension seines Abstiegs bleibt ihm verschlossen. Und als Lola ist Anna Herrmann zwar eine splendide Tänzerin, als Charakter aber die Einfalt vom Lande – von Kopf bis Fuß auf Anstand eingestellt – schade, denn ich hätte ihr eine typgerechtere Rolle (etwa als Rotkäppchen) gewünscht. Exzellent auch die beiden Unrat-Gegenspieler, herausfordernd, zynisch, und in ihren solistischen Einlagen und in ihren Pas de deux mit Lola sich virtuos ins Zeug legend Yuki Mori als Lohmann und Gregor Thieler als eleganter Schnösel Kieselack. Ziemlich schleierhaft blieben mir die beiden Gestalten aus Unrats Vergangenheit, Romy Liebig und Valérie Sauer.

Das Konzept hat Thoss mit einem neuen Dramaturgen ausgeheckt: Stefan Ulrich – ob der ein Gewinn gegenüber der offenbar nach Stuttgart entliehenen Anja von Witzler ist, wage ich zu bezweifeln. Sehr geschickt ist das verwandlungsrasche Drehbühnenbild von Kaspar Zwimpfer, angemessen provinziell die Second-Hand-Kleider, die Katharina Meintke für die Schülerinnen und die Salondamen entworfen hat. Ich bin eher durch Zufall in diese Samstagabend-Vorstellung auf dem Rückweg von Essen nach Stuttgart geraten – ursprünglich hatte ich nach der Lektüre der Verrisse gar nicht nach Wiesbaden fahren wollen. Dies war die vierte Vorstellung – die Premiere hatte zwei Wochen zuvor stattgefunden. Es war wohl eine typische Abo-Vorstellung (fußballfrei), das Haus ordentlich gefüllt, das Publikum mit Zwischenbeifall geizend, aber hinterher umso applausfreudiger. Ich habe es nicht bereut, mir die Produktion angesehen zu haben, auch wenn sie mich letzten Endes nicht überzeugt hat. Denn da ist ja die so ausgesprochen individuelle choreografische Handschrift von Stephan Thoss. Die ist absolut einmalig auf unserer Ballett- und Tanztheaterszene. Ich wünsche ihm die Berater, die ihm die Stoffe und die Musiken empfehlen, die seiner so eigenwilligen und eigengeprägten Begabung entsprechen!

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