Von mediterranen Träumen und Albträumen

John Neumeiers neuer Abend steht ganz im Zeichen Diaghilews

oe
Hamburg, 13/11/2008

Die vierte Vorstellung des neuen Abends, der am 7. November Premiere hatte. Total volles Haus, große Publikumsbegeisterung. Die Kompanie – beide Kompanien, denn auch die Ballettschule ist in „Daphnis und Chloë“ voll im Einsatz – in Topform. Wie München, so setzt auch Hamburg in dieser Spielzeit ganz auf Diaghilew, dessen Pariser Debut der Ballet Russes sich im nächsten Frühling zum hundertsten Male jährt. Erfreulich, wie sich nun auch bei uns allmählich so etwas wie ein historisches Ballettbewusstsein heranbildet: peu à peu scheinen wir erwachsen zu werden.

„Daphnis und Chloë“ und „Le Sacre“, beide Jahrgang 1972, stammen aus Neumeiers Frankfurter Frühzeit, „Nachmittag eines Fauns“ entstand 1996 für Derevianko und Partner in Dresden. Das ergibt musikalisch, dramaturgisch, ästhetisch ein beglückend stimmiges Programm. Welch ein sinnlicher, verführerischer, musikalischer Glanz (bei all den vielen Misstönen, die wir gemeinhin in modernen Abenden heutzutage erleiden müssen – siehe Stuttgarts „Hamlet“). Ausgesprochen genossen habe ich die Wiederbegegnung mit Jürgen Roses überwältigendem, so unglaublich atmosphärisch suggestiven „Daphnis“-Bühnenbild – genau wie neulich in Stuttgart mit seinem „Poème de l'extase“ (und wie gern wäre ich gestern in München bei der ebenfalls von ihm ausgestatteten vierzigjährigen Münchner „Romeo“-Gala dabei gewesen – allein München und Hamburg an aufeinanderfolgenden Abenden, das verkrafte ich einfach heute nicht mehr).

Da wurde einem wieder einmal so recht die Einbuße an malerischer Qualität bewusst, wie wir sie uns heute in den meisten Ausstattungen zumuten. Ein Abend, so ganz nach oe's Gusto: ein Fest der Sinne, der Schönheit, der Jugend: „Vissi d'arte!“ „Daphnis“ und „Faun“, von Neumeier als Tagträume an mediterranen Gestaden choreografiert – hinreißend mit attraktiven, technisch versierten Tänzern besetzt: „Daphnis“ mit Florencia Chinellato und Thiago Bordin sowie Catherine Dumont als Lykanion und Carsten Jung als Dorkon (die glänzend gegen die Frankfurter Vorbilder von Marianne Kruuse und Truman Finney bestehen können) – ein glücklicher Generationen-Mix (und eine tolle Herausforderung für die Youngsters von der Schule).

„Der Nachmittag eines Fauns“ sodann als Pas de trois eine Art Reflex auf die Dreierkonstellation von „Jeux“, mit dem reifen Otto Bubeníček, der raffiniert ihre Reise ins Spiel bringenden Hélène Bouchet und dem hier ideal (im Gegensatz zu seinem Tadzio) besetzten, jugendlich draufgängerischen Edvin Revazov als sinnlich schwüle Siesta-Evokation. Eine Werkkombination, die gerade auch musikalisch hundertprozentig aufgeht. Und „Le Sacre" nach so vielen Jahren? Von unverminderter Wirkung in der überwältigenden Fülle der Bilder von eher archaischer Wucht – die Träume von mediterranen Sonnenglast hier nun ins Albtraumhafte gekippt – Kolchis eher als Lesbos. Nach wie vor in starker Erinnerungspräsenz: Beatrice Cordua als Ausgesetzte – nackter, härter, kantiger als die zartere Leslie Heylmann, die sich gleichwohl in einen wahren, von Dämonen besessenen Furor hineintanzt. Das Hamburger Ballett; eine einzige Force de frappe! Eine Woche nach Zürichs „Artifact“, zwei Wochen nach Stuttgarts „Variationen“: seien wir dankbar, dass wir uns derartige Ballettabende noch leisten können. Von Ballett-Wirtschaftskrise auch nicht die Spur!

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern