Struwwelpeter mit Tiefenwirkung

Surreale, traumhafte Atmosphäre

Bielefeld, 20/02/2008

Struwwelpeter (1844) mit Suppenkasper, Hans-guck-in-die-Luft, Daumenlutscher, Zappelphilipp, Fliegender Robert treibt die Erziehungs„wissenschaft“ um: Ist es Propagierung einer rigoros autoritären Erziehungsmethode, die Kinder bricht, oder, gewollt oder ungewollt, höhnische Satire auf die Gesellschaft vor der 1848er Revolution? Ist es ein Kinderbuch oder nur Lektüre für Erwachsene wegen ihrer sadistischen Züge? Was sagt es uns, dem Tanztheater und seinen Zuschauern heute? Zöllig und seine Tänzer*innen lassen sich in Bielefeld erst gar nicht auf die direkte „Vertanzung“ der Vorlage „Struwwelpeter“ ein. Sie rücken das Geschehen in eine oft surreale, traumhafte Atmosphäre, greifen sich die wesentlichen Züge heraus wie Gewalt, Manipulation, Verzweiflung, Witz und groteskes Verhalten – und gewinnen damit eine zweite Ebene, auf der Tanz an und für sich möglich ist ohne platte, eindimensionale Agitation.

Links schließt eine diagonale gestellte Wand, furniert wie eine wuchtige Schankwand (aus der sich Schubladen wie im Leichenschauhaus ziehen lassen), die Bühne nach hinten ab, rechts richtet sich eine mit Blättern gemalte auf, als wolle sich Natur ins Wohnzimmer drängen. Ein überdimensíonaler Tisch, wie aus Kindersicht, ergänzt das Bild (Bühnenbild und Kostüme: Hank Irwin Kittel). Ein riesiges weißes Tuch wird als Wellen genutzt, als Seil, um etwas zu ziehen, als Versteck, unter dem sich gut munkeln lässt. Die Tänzer*innen erscheinen in Alltagskleidung. Zöllig bricht immer wieder die Wirkung scheinbar eindeutiger Gesten, Bewegungen, Abläufe: Einem Teddy, Bild der Unschuld, wird ein Arm abgerissen – der Tänzer verwendet ihn als Mikrophon. Zum Struwwelpeter-Text entwickelt sich ein militärischer Drill für die energiegeladene Gruppe, vorwärts gepeitscht von einer Frau, die sich mehr und mehr in eine kreischende Kommandeuse verwandelt – bis zu ihrem hysterischen Zusammenbruch. Täterin und Opfer zugleich.

Dem Suppenkaspar setzt er ein Vorspiel voran. Das Kind wird manipuliert von den Eltern über gesteuerte Armbewegungen wie klassische port de bras. Sie führt die Arme nach oben, er nach unten, sie zur einen Seite, er zur anderen. Schließlich drehen und schieben sie das Kind zwischen sich hin und her. Als der Kleine abtaucht und sich zum Tisch flüchtet, machen die Eltern mit ihren Bewegungen wie aufgedreht weiter. Nun sieht es aus, als schlügen sie sich, der wahre Hintergrund der Auseinandersetzungen wird sichtbar. Dem Kind wird die Suppe als dunkler Sand serviert, während sein Stuhl wie ein Fahrstuhl höher und höher fährt. Märchenhafte Stimmung schwarzer Tönung.

Bis zum Exzess steigert sich die Lutsch- und Kussorgie im „Daumenlutscher“. Bei der paarweise aufgeteilten Gruppe klingt es wie Pfürze, wenn die Lippen auf einen nackten Körperteil treffen: Daraus machen sich Kinder zum Entsetzen prüder Erwachsener einen Spaß, weil sie noch eine relativ natürliche Verbindung zu den eigenen Körperausscheidungen und –gasen haben. Beim Daumenlutscher steigert sich die „Oralphase“ zur komischen Ekstase, wenn er wie besessen seine Arme abknutscht. Glück und Unglück zugleich.

Intermezzi schieben sich zwischen die Episoden: Ein Glatzköpfiger erzählt vom Mairegen, der Haare wachsen lässt, bindet sich das Hemd wie eine Mähne um den Kopf, schwingt ihn selig hin und her. Auf das Gelächter der Gruppe antwortet er mit selbstsuggestiven Worten: Ich hab’ die Haare schön, die Füße, Arme, den Popo, die Finger schön. Traurige Isolation.

Oder: Pubertäre Machos treiben obszöne Spiele, schieben sich den Finger wie einen Pimmel durch den geöffneten Hosenstall. Da reißt einem Zuschauer der Geduldsfaden, immer lauter beschwert er sich, steigt schließlich auf die Bühne und schlägt die Fünf nacheinander nieder: „Sehen Sie, es geht doch“, wendet der Schauspieler sich ans Publikum, „Erziehungsheim ab zwölf.“ Da rutscht Zöllig einmal aus, Kresnik lässt grüßen. Die Musik von der englischen Gruppe „Tiger Lillies“ und Patrick Schimnaski begleitet und treibt das Geschehen auf der Bühne mit scharf konturierten Rhythmen an, zelebriert einen ironischen Moritatenton, unterfüttert mit jazzigen Farben. Genau passend serviert die vierköpfige Band mit u.a. Saxophon, Harmonium, Gitarre, Bass, Schlagzeug, Bassklarinette sehr knackig den Sound.

Auf den Boden gepeitschte schwarze Mäntel zeichnen die Gewaltausbrüche von Friedrich, dem argen Wüterich nach. Die Mäntel werden in die Luft beworfen, fallen auf die Köpfe der Tänzer, die darunter zusammenbrechen. Friedrich wird abgeschleppt und in einer der Wand-Schubladen kopfüber „entsorgt“. Er schenkt ihr ein mädchenhaftes Kleidchen, beginnt eine gewissermaßen subtile Vergewaltigung, wickelt sie in seine Jacke wie in eine Zwangsjacke, hebt sie immer wieder, sie schwingt ihren Kopf mit wirbelnden Haaren immer heftiger. Löst sich von ihm und verschwindet in einer Versenkung, und taucht wieder auf, singt vom Paulinchen mit dem Feuerzeug, aus ihren Schuhen rieselt Asche, aus der ein Nebel entsteht. Verlorensein. Im Schlussbild sind die Wände zur Seite gerückt, wodurch sich eine schluchtartige Gasse nach hinten öffnet. Flying Robert schwebt in einem Boot vor einem Wolkenbild in die Höhe, in eine tröstliche Traumwelt.

Kaum ein langweiliger Moment in der 100minütigen Aufführung, getragen von fantasievoller Gestaltung und reicher Bewegungserfindung. Und von den Tänzer*innen, die alle für sich präzis, kraftvoll agieren im Tanzen, im Englisch- und Deutsch-Sprechen, jeder und jede seine individuelle Note einbringt. Schade nur, dass im Programmheft keine Auflistung steht, wer was solistisch singt – fast durchwegs ausgezeichnet - und tanzt. In der 2. Vorstellung spendet das Publikum im gut besuchten, frisch renovierten Haus spontanen Zwischenapplaus und herzlichen Schluss-Beifall.


Premiere: 09.02.08, gesehene Vorstellung: 17.02.08

 

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