Rotbart bekommt eine alles entscheidende Rolle

Márcia Haydée bereitet einen „Schwanensee“ vor

Stuttgart, 09/04/2008

Seit über zwanzig Jahren steht in Stuttgart das „Dornröschen“ von Márcia Haydée auf dem Plan, eine Klassikerproduktion, die viele für das Nonplusultra halten. Jetzt bereitet die Direktorin des Ballet Municipal de Santiago de Chile für den 24. Januar einen „Schwanensee“ vor. Hartmut Regitz hat sich mit der ehemaligen Primaballerina und Prinzipalin des Stuttgarter Balletts unterhalten.

Redaktion: Ein neuer “Schwanensee“ – allerdings nicht am Stuttgarter Ballett, wie man hätte vermuten können, auch nicht zu Hause in Santiago de Chile, sondern beim Koninklijk Ballet van Vlaanderen in Antwerpen. Warum ?

Marcia Haydée: Das Projekt reicht in die Zeit von „Dornröschen“ zurück, das ich vor ein paar Jahren in Antwerpen neu erarbeitet habe. Kathryn Bennetts, die Direktorin, bat mich seinerzeit um einen neuen „Schwanensee“ – ein Ballett, das ich, wie „Dornröschen“, immer schon mal machen wollte. Aber Stuttgart hat nach wie vor Crankos „Schwanensee“ im Repertoire, und in Santiago tanzen wir die von Ivan Nagy. Sie zu behalten, ist mir wichtig, weil seine Tätigkeit für Chile so verdienstvoll war. Also habe ich mein „Schwanensee“-Projekt ad acta gelegt – so lange, bis Kathryn kam.

Redaktion: Auf Grund Ihrer Erfahrungen mit „Dornröschen“ und „Giselle“ darf man annehmen, dass Ihr „Schwanensee“ nicht unreflektiert der Tradition huldigt.

Marcia Haydée: Ich habe kein Interesse daran, einfach Crankos „Schwanensee“ zu kopieren, den ich so oft getanzt habe. Wenn ich nicht etwas Neues mache, wenn ich nicht andere Akzente setze, macht meine Arbeit keinen Sinn. Bei mir wird es den ersten und zweiten Akt als einen Aufzug gegeben, der dritte und vierte als zweiten. Eine einzige Pause: das genügt.

Redaktion: Ein verkürzter „Schwanensee“?

Marcia Haydée: Nein. Wenn wir „Schwanensee“ so tanzten, wie Tschaikowsky ihn komponiert hat, würde er Stunden dauern. Keine Version hat alle Musik verwendet. Natürlich bleibt der zweite Akt so, wie wir ihn von Lew Iwanow her kennen; es gibt nichts Besseres. Aber so wie ich beim „Dornröschen“ die Rolle der Carabosse aufgewertet habe, werd ich diesmal Rotbart eine alles entscheidende Rolle zuweisen. Obschon er eine so wichtige Figur ist, taucht er im „Schwanensee“ kaum einmal richtig auf – nicht einmal bei Cranko. Anders bei mir. In Antwerpen ist er präsent, wenn auch nicht in der Weise wie die Carabosse in „Dornröschen“. Durch seine Allgegenwart macht er bewusst, dass der Schwanensee nur seinetwegen existiert.

Redaktion: Aber der „Schwanensee“ wird das Märchenballett bleiben, wie es uns überliefert ist?

Marcia Haydée: Klar. Aber der vierte Akt wird anders sein. Meistens gleicht er dem zweiten, von dem er sich allenfalls durch seine Choreografie unterscheidet. Ich dagegen zeige die Kraft, die Rotbart auf Siegfried ausübt, und deshalb gibt es bei mir einen Pas de deux der beiden, der vom dritten in den vierten Akt überleitet, in dem selbstverständlich Schwäne tanzen – mit Rotbart im Mittelpunkt. Er ist das Zentrum der Macht.

Redaktion: Doch was verkörpert Rotbart?

Marcia Haydée: Nicht wie Carabosse schlechthin das Böse, obwohl er die Mädchen in Schwäne verwandelt. Rotbart hat bei mir fast etwas von einem Dracula, von einem Vampir: eine Zwitterexistenz, halb Mensch, halb Schwan. Er will einfach nicht alleine sein, und deswegen nützt er seine Kraft.

Redaktion: Es gibt eine Odile?

Marcia Haydée: Eine Odette und eine Odile, beide getanzt von der gleichen Solistin. Odile soll sich von Odette nicht so unterscheiden, dass man die Verwechslung nicht mehr glaubt, und deshalb muss ich einen Weg finden, dass Odile in ihrem Pas de deux mit Siegfried zwischendurch immer wieder etwas von der Odette des zweiten Aktes hat. Siegfrieds Verliebtheit sollte schlüssig sein.

Redaktion: Odette/Odile ist also nicht, tiefenpsychologisch erklärt, eine gespaltene Persönlichkeit, sondern von Grund auf unterschieden: die eine ein Schwan, die andere Rotbarts Tochter.

Marcia Haydée: Genau. Auch die Charaktertänze nehme ich wichtig und deshalb habe ich dafür einen Spezialisten engagiert: Tom Bosma vom Königlichen Konservatorium in Den Haag, ein Wissenschaftler und Choreograf, der sehr viel über Charaktertanz weiß.

Redaktion: Einen Prinzen gibt es natürlich auch.

Marcia Haydée: Ja, und er hat zumindest eine Mutter, vielleicht auch einen Vater – das ist noch nicht entschieden. Auf jeden Fall fühlt er sich unglücklich im Schloss und sucht deshalb außerhalb stets die Nähe seiner Freunde. Dafür verzichte ich auf Benno, dem in manchen Fassungen ein allzu enges Verhältnis mit Siegfried angedichtet wird.

Redaktion: Siegfried, das ist ein Tänzer des Koninklijk Ballet van Vlaanderen, das übrigens alle Rollen mit eigenen Kräften besetzt. Doch wer ist der Bühnenbildner? Jürgen Rose hatte seinerzeit entscheidenden Anteil am Sensationserfolg des Stuttgarter Balletts.

Marcia Haydée: Wie schon beim „Dornröschen“ des Ballet van Vlaanderen: Pablo Nunez, ein unglaublich begabter Designer so um die vierzig – für mich der Jürgen Rose von Südamerika.

Link: www.koninklijkballetvanvlaanderen.be

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