Nostalgie ohne Charme

„Schwanensee“ – ein Gastspiel des Stanislawsky-Balletts aus Moskau bei den Hamburger Ballett-Tagen

Hamburg, 10/07/2008

Ach ja, Schwanensee. Das weiße Aktbild mit dem Auftritt der Schwanenkolonie: Beim Gastspiel des Moskauer Stanislawsky-Balletts erscheinen 18 Tänzerinnen im weißen Outfit (Tutu, Oberteil und Kopfschmuck) nach und nach (pas de chat – piqué arabesque) auf der Fläche. Dazu gesellen sich die vier kleinen und die drei großen Schwäne, bevor Odette als die oberste der majestätischen Vögel ihren Auftritt hat. Wie sich nun die Gruppen in unterschiedlichen Stärken (neun, sechs, vier, drei) gegeneinander verschieben, sich auflösen und wieder zusammenkommen in der Diagonalen, einander gegenüber in Reihen, miteinander und abwechselnd agierend im Kreis, auffallend belebend auch während des Pas de deux Odette-Siegfried, bis zur fein „geklöppelten“ Schlussaufstellung: Standbein, dazu Spielbein tendu nach hinten, wobei der Tendu-Fuß jeweils auf der Höhe des Standbeins der dahinter stehenden Frau den Boden berührt – das fasziniert bis hin zur Schwanenhaltung am Boden, gebeugt über das nach vorn ausgestreckte Bein, die Tutus leuchtend wie ein Federkleid.

Choreograph: Lew Iwanow 1894/95. Sehr genau und synchron, die tiefe Konzentration des Ensembles ist fast körperlich spürbar, zeichnen die Tänzerinnen Iwanows komplexe Raumformen nach, vollziehen sie die vielen Wechsel im Raum ohne Brüche. Ein bisschen mehr lyrisch-poetische Farbe hätte ich mir gewünscht. Ein besonderes Erlebnis bescheren die vier kleinen Schwäne, die plötzlich neben der Musik sind und dennoch vollkommen gleich eisern durchhalten bis zur Finalpose. Bei den drei großen Schwänen hebt sich die mittlere mit weiten Armbögen und konturierter Beinarbeit ab. Eine tüchtige Kompanie mit solider Breite.

Hier, wie in den voran gegangenen und folgenden Bildern, fällt auf, wie wenig Tiefe das altertümliche Bühnenbild den Tänzerinnen lässt, offenbar angepasst den Maßen der Moskauer Bühne. Den Rest des „Schwanensee“ fügte Vladimir Burmeister (1904-1971) im Jahr 1953 zu einer eigenen Version zusammen, die beim Stanislawsky-Ballett bis heute bewahrt wird, 1960 an der Pariser Oper Furore machte. Den Gedanken an Neumeiers dramaturgisch klug durchdachte und choreographisch reich inspirierte „Illusionen wie Schwanensee“ muss man rigoros unterdrücken. Da liegen Welten dazwischen. Burmeister nutzte zwar Tschaikowskys Originalpartitur, vermochte aber daraus, nach dem Gastspiel zu urteilen, keine mitreißende Choreografie schaffen, in der die handelnden Personen scharfes, vitales Profil gewinnen. Lange Durststrecken sind zu durchstehen, in denen die Handlung stillsteht, die Tänzer/Innen nichts weiter transportieren als Bewegung. Das Ensemble hat in der gesehenen Vorstellung am 8.7. (eine weitere folgt am 9.7.) keine Solisten aufzuweisen, die durch Persönlichkeit dieses Manko ausbügeln könnten.

Georgi Smilewski als Prinz Siegfried, schlanke Gestalt mit langen, wohl geformten Beinen und hervorstechendem Spann, prägnantem Profil, schreitet edel über die Bühne, hat nur ein, zwei Armgesten, die er wieder- und wieder wiederholt, kaum je bewegt sich seine Miene. Er ist weniger ein Siegfried als ein Friedwald, dem die Attacke nicht liegt; der Kampf mit Tortbart gerät ihm denn auch zu einer eher lethargischen Angelegenheit. Beim seltenen Tanzen gerät er schnell aus der Form: zu weicher Rücken bei den Landungen nach den nicht sehr hohen Sprüngen, zu unsicher in den Drehungen, nicht fähig, lange Bögen zu phrasieren, zu wenig Dynamik. Akzeptabel, wenn auch nicht herausragend präsentiert er sich als Partner, der eine Besonderheit zeigt, das „Herumnudeln“ der Partnerinnen: Wenn sie sich beim Drehmoment ihrer Pirouetten am Mann bereits erschöpft hat, dreht er sie deutlich sichtbar mit energischem Griff um die Taille weiter und weiter.

In der herben Oxana Kusmenko als Odette/Odile hat er keine, die seine Leerstellen auffüllen helfen könnte. Kusmenko führt die Schritte aus mit energischem Zugriff, sei es als Odette oder als Odile (da passt es besser), hangelt sich wie ihr Partner von einem Bewegungsabschnitt zum nächsten, ohne sie miteinander durch geschmeidige Phrasierung zu verbinden. So stehen die Teile isoliert, so wird die Form hohl, weil sie nicht in Ausdrucksmomente, -entwicklungen verwandelt werden. Verzweiflung wegen ihrer Gefangenschaft in Tiergestalt, Liebe zum Prinzen als ihrem Erlöser aus der Verwandlung durch Rotbart klingen bei ihr nicht an. Sie exekutiert mit labiler Schulterpartie die Rolle mechanisch wie aufgedreht. Symptomatisch dafür sind ihre brachialen, sehr unruhig wippenden Fouettés, bei denen sie sich nicht um den Gang der Musik kümmert.

Mehr Gestalt gewinnt Denis Akinfejew als spritziger Narr. Er böllert seine Sprungserien in den Raum, zerschneidet die Luft mit Touren aller Art en masse, dreht nach signalartiger Préparation – schaut her, jetzt kommt’s - die Pirouetten ohne Ende wie ein Brummkreisel – und hüpft und läuft ansonsten flinken Schrittes frohgemut durch die Reihen des Ensembles. Aufgedreht wie ein Turbo kann er in Burmeisters Bewegungskanon nur selten wirklich komisch sein, wirkt er eher wie ein zirzensischer Hans-Dampf-in-allen-Gassen, ohne dessen Anwesenheit nichts läuft. Burmeister mochte wohl den Typus, gesellt ihm spätere noch vier weitere Narren hinzu.

Dirigent Georgi Zhemchuzhin leitet das Orchester des Stanislawsky-Balletts zu saftigem Musizieren, auch in Adagiomomenten sitzt kraftvolle Emotionalität, in den Steigerungen bis zum Fortissimo wird ein athletischer Klang mit oft groben Konturen entwickelt. Beispielhaft zu erleben in den vier Nationaltänzen Spanisch, Neapolitanisch, Ungarisch, Polnisch, bei denen der sich steigernde Anlauf zur Schlusspose mit einem krachendes Finaltutti endet. Diese Bonbons servieren die Stanislawsky-Tänzer/innen mit draufgängerischem Schmackes. Es wird heller, auf Rotbarts Anhöhe auf der Waldlichtung vollzieht sich die Apotheose des glücklich vereinten Paares. Dem Ballett Burmeisters, posenhafte, verstaubte Nostalgie ohne Charme und Zauber (Iwanows Schwanenakt ausgenommen), ist jedoch außerhalb Russlands keine Zukunft beschieden, meine ich.

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