Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
John Neumeier berichtet in der 178. Ballett-Werkstatt über seine Arbeit an der Wiederaufnahme des 1977 an der Wiener Staatsoper uraufgeführten Werkes nach Musik von Richard Strauss
Die Entstehungsgeschichte von Neumeiers erster Fassung der „Josephs Legende“, die im Februar 1977 an der Wiener Staatsoper uraufgeführt wurde, dürfte nur wenigen bekannt sein, und so war es höchst unterhaltsam und informativ, als Hamburgs Ballett-Intendant anlässlich der Ballett-Werkstatt am 15. Juni 2008 aus dem Nähkästchen plauderte.
1976 – da war Neumeier gerade drei Jahre Ballettdirektor in Hamburg – erreichte ihn ein Anruf des damaligen Wiener Staatsopern-Intendanten Gerhard Brunner mit der Anfrage, Richard Strauss’ voluminöses sinfonisches Werk für den Tanz neu zu choreografieren. Bereits einige Jahre zuvor – zu Neumeiers Frankfurter Zeiten – hatte sich der Dirigent Klaus-Peter Seibel mit dem gleichen Anliegen an ihn gewandt. „Ich habe die Musik gehört und keine Beziehung dazu gefunden“, erzählt der Choreograf von dieser ersten Begegnung mit der überaus voluminösen Strauss’schen Musik. Als dann Brunners Anruf kam, war er also bereits negativ konditioniert. Auch die Tatsache, dass für die Hauptrolle kein Geringerer als Mikhail Baryshnikov – zwei Jahre zuvor aus der UdSSR geflohen und neben Rudolf Nurejew der absolute Star unter den Tänzern – und als Potiphars Weib die legendäre Maria Callas vorgesehen waren, konnte Neumeier nicht imponieren. Er gab Wien einen Korb.
Nach einigem Nachdenken jedoch signalisierte er dem großen Haus doch noch sein Einverständnis, denn mittlerweile hatte er sich mit dem Stück und seiner Geschichte näher beschäftigt. Und kam dahinter, dass darin eine Person, die Neumeiers Herzen und Seele schon seit eh und je nahe steht, eine nicht unbedeutende Rolle spielt: Vaslaw Nijinsky. Er war – neben Fokine – der erste Choreograf, der das Stück erarbeitet hatte.
Denn das Ballett „Josephs Legende“ geht zurück auf eine Idee des Diplomaten und Dichters Harry Graf Kessler. Der Adlige war zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der größten Fans der durch Sergej Diaghilew und die legendären Ballets Russes in die Welt gebrachten neuen Form des Tanzes.
1911 schreibt Kessler einen Brief an den großen Impresario und schlägt ihm vor, ein Ballett auf ein biblisches Thema machen, es jedoch in der Zeit der Renaissance anzusiedeln. Diaghilew ist sehr interessiert und will dafür eine Komposition von Richard Strauss. Doch die lässt auf sich warten. 1912 gibt es nach der Premiere von „L’Après-midi d’un Faune“ der Ballets Russes in Paris im Restaurant Larue ein großes Souper mit „tout Paris“ – u.a. Jean Cocteau, Marcel Proust, Hugo von Hofmannsthal, dem Aga Khan – just von einem Kostümfest kommend und angetan mit einem mit echten Juwelen bestickten kostbaren arabischen Gewand, das Kessler wie auch das gesamte Gelage aufs Detaillierteste beschreibt. Kesslers Idee eines biblischen Themas begeistert die illustre Tafelrunde, und man ergeht sich in zahllosen Vorschlägen: David? Salome?
Es ist Graf Kessler selbst, der schließlich Joseph und seine Begegnung mit Potiphars Weib vorschlägt, woraufhin Hofmannsthal beauftragt wird, dafür ein Libretto zu schreiben. Als Choreograf und Hauptdarsteller ist Nijinsky vorgesehen. Um ihn dreht sich alles. Aber Nijinsky heiratet im August 1913 während eines Gastspiels in Buenos Aires und kurz darauf wird er deshalb von Diaghilew verstoßen. Alle Versuche, ihn umzustimmen und dem ehemaligen Geliebten zu verzeihen, scheitern – was für das Projekt „Josephs Legende“ nicht ohne Folgen bleibt. Diaghilew holt als Choreografen Fokine zurück und entdeckt als Tänzer-Ersatz den 19-jährigen und noch gänzlich unbekannten Gruppentänzer Leonid Massine, der gerade drauf und dran ist, seine Ballett-Karriere zugunsten einer Schauspieler-Laufbahn an den Nagel zu hängen. Ihm vertraut Diaghilew nun das mit gut einer Viertelstunde längste je für einen Tänzer komponierte schwierige Solo an – ein Unding!
In diesem Zusammenhang verriet Neumeier bei der Werkstatt eine hübsche Anekdote am Rande: Im Zuge der Vorbereitungen zur Uraufführung in Wien hatte er 1977 Gelegenheit, persönlich mit Romola Nijinsky zu sprechen. Sie, so erzählt er, berichtete von einer Äußerung ihres Mannes aus dieser Zeit: „Und wenn der liebe Gott persönlich auf die Erde käme – auf diese Musik könnte auch er kein Ballett machen.“ Schon daraus wird deutlich, dass „Josephs Legende“ weder musikalisch noch choreografisch leicht verdauliche Kost ist.
Auch John Neumeier tut sich 1976/77 schwer mit dieser Komposition, die für ihn klingt „wie mittelmäßiger Wein in venezianischem Glas“. Erst eine Kurzfassung, ein 25-minütiges Fragment aus der 70 Minuten dauernden Originalfassung, erschließt ihm die Musik näher. Bis dahin wusste er nur, dass die Geschichte, die er dazu erzählen wollte, größer werden musste als das trivale „junger Mann wird von älterer, frustierter Dame begehrt, aber es klappt nicht.“ Neumeier erkennt vier Abschnitte in der Musik, die vor allem das Innenleben der handelnden Personen betreffen:
1. Das Seelengemälde Potiphars Weib: Sie ist kalt, schön, unzufrieden, und die Reinheit und Klarheit Josephs bringen sie komplett aus der Balance. Sie sieht in ihm das, wonach sie sich selbst inmitten der Oberflächlichkeit und dem Materialismus des Hofes so sehr sehnt: Spiritualität, Geistigkeit.
2. Das Seelengemälde Joseph, der Hirtenjunge: jung, unschuldig, ein fast noch kindlicher Naturbursch, der staunend vor der Üppigkeit und Dekadenz höfischen Lebens steht und bereits die Ahnung seiner künftigen Aufgaben in sich trägt, weshalb er auch mit dem Begehren der Diva nichts anfangen kann.
3. Der Konflikt zwischen diesen beiden Seelen.
4. Der Sieg der Unschuld, der Joseph zu seiner Berufung führt. Um jedoch die Besonderheit der Beziehung von Potiphars Weib und Joseph verstehen zu können, braucht man einen Hintergrund, von dem sie sich abheben können, erzählt Neumeier.
Ausgangspunkt ist deshalb eine Szenerie ähnlich derjenigen, in der „Josephs Legende“ als Idee aus der Taufe gehoben wurde – eine dekadente, mondäne, gelangweilte Gesellschaft, der Hof von Potiphar, an den Joseph wie Strandgut angespült wird. Potiphar ist bei Neumeier ein äußerst attraktiver Mann (besetzt mit Amilcar Moret Gonzales bzw. Carsten Jung), sodass die Unzufriedenheit seiner zickigen, divenhaften Gattin umso unverständlicher erscheint: Was, um alles in der Welt, will sie denn noch? Sie hat doch alles: einen tollen Mann, Wohlstand, Schönheit. Wonach also sehnt sie sich? Es ist dieser spirituelle, geistige Kern des Stücks, auf den es Neumeier schon 1976/77 in der Wiener Produktion ankommt. Deshalb wirft er auch die vorgesehene prominente Besetzung komplett über Bord und fordert, sämtliche Rollen mit Tänzern besetzen zu können – was ihm gewährt wird. Bei der Besetzung der Titelrolle gibt er einem noch ganz jungen Ballerino, den damals keiner kennt, eine Chance: Kevin Haigen. Für ihn wurde dieser Part, so sagt er selbst, zur Rolle seines Lebens. Bei Potiphars Weib bürstet Neumeier noch einmal kräftig gegen den Strich und erwählt mit Judith Jamison eine schwarze, hochgewachsene Tänzerin der Alvin Ailey-Kompagnie aus New York – nahezu ein Skandal! Das Stück wird ein Riesenerfolg (und ist übrigens auf DVD bei der Deutschen Grammophon festgehalten).
Fast 30 Jahre nach der Uraufführung und der Hamburger Produktion von 1979 hat Neumeier dieses Ballett nun gänzlich neu in Szene gesetzt. 2008 wird Kusha Alexi – groß, blond und weißhäutig – die Rolle von Potiphars Weib übernehmen und bekommt damit nach der Mutter in „Parzifal“ die erste große Chance in Hamburg, eine Charakterrolle tänzerisch und darstellerisch auszufüllen. Mit Alexandre Riabko als Joseph verlässt sich John Neumeier auf einen bewährten, vielseitigen und ausdrucksstarken Tänzer. Dass Edvin Revazov als Engel besetzt ist, wundert nicht wirklich – er wird sicherlich ein echtes Kontrastprogramm bieten zu der Besetzung der Hamburger Premiere 1979 mit dem virilen, kräftigen Francois Klaus. Gespannt sein darf man auf die zweite Besetzung mit dem deutlich jüngeren Thiago Bordin, der im Winter bereits als „Othello“ brillierte, sowie mit der ausdrucksstarken Joelle Boulogne als Potiphars Weib, Ivan Urban als Engel und Carsten Jung als Potiphar.
Vorstellungen am 29. Juni (Premiere) sowie am 1. und 11. Juli im Rahmen der Ballett-Tage, dann wieder in der kommenden Spielzeit.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments