Hingerichtet unter dem Fallbeil

Das Zürcher Ballett nobilitiert William Forsythes Bach-„Artifact“

oe
Zürich, 08/11/2008

Samstagabend. Das Zürcher Opernhaus nicht ausverkauft, aber gut besucht, inklusive der billigen Plätze auf dem zweiten Rang. Nach der Pause allerdings bleiben ein paar Plätze leer. Die zwölfte von insgesamt fünfzehn Vorstellungen in anderthalb Monaten von William Forsythes „Artifact“ – hat Frankfurt selbst je den kompletten Vierakter so oft zu sehen bekommen? Es war 1984 Forsythes erster Abendfüller als Ballettchef in der Main-Metropole. Ich hatte bei der Uraufführung einen eher zwiespältigen Eindruck. Vor allem Bachs wegen, dessen Partita für Violine Solo (von Nathan Milstein aus dem Lautsprecher) mehrfach durch den wie ein Fallbeil herabsausenden Eisernen Vorhang brutal hingerichtet wird. Dann aber auch wegen des ewigen, in großen Teilen unverständlichen englischen Gequengels der beiden Akteure: Kate Strong als Dame im historischen Kostüm (in einer Art Madame-Pompadour-Rolle, die sie hinreißend manieriert gestikuliert) und Nicholas Champion, Forsythes alter Frankfurter Kämpe, hier nun als Mann mit Megafon.

Anders verhält es sich mit Forsythes effektiver Choreografie. Es ist seine klassischste Choreografie – quasi eine Fortsetzung von Balanchines „Concerto Barocco“ mit den Mitteln der aus ihrer klassischen Harmonielehre emanzipierten Danse d'école (die Damen ständig auf Spitze – trotz aller Verbiegungen, Vertwistungen, Abbrüche, Fragmentarisierungen, Querstände und Pervertierungen, alles vorsätzlich natürlich) – analog der Schönbergschen Zwölftonsystematik. Von einer ganz unglaublichen Vielfalt in ihren kontrapunktischen Gruppenführungen. Und von einer atemberaubenden Schönheit in ihren Unisono-Großformationen (vierzehn Damen, zwölf Herren, dazu die beiden Paare Yen Han und Iker Murillo sowie Julie Gardette und Vahe Martirosyan in dem komplementären Doppel-Pas-de-deux). Es ist eine Choreografie, die ihre abstrakten Botschaften wie von Signal-Maaten (ohne Flaggen) in den Raum sendet, introduziert von Sarah-Jane Brodbeck, die wie eine von Matisse entworfene Figur in Weiß im Prolog die Bühne überquert.

Die Einstudierung von Jodie Gates, Noah Gelber und Agnès Noltenius und ihre Ausführung durch die Zürcher Tänzer ist von einer wahrhaft schweizerischen Uhrwerkspräzision. Wann habe ich je bei einer deutschen Opernballettkompanie solche wie mit dem Lineal gezogene Linien gesehen? Nicht in Berlin, Hamburg, München oder Stuttgart – und schon gar nicht von Forsythes eigenem, zusammengewürfelten Ensemble. Da ist man versucht, mit St. Petersburg oder Moskau zu vergleichen. Es ist das Resultat einer zwölfjährigen konsequenten Trainingsarbeit, für die auf dem Programmzettel Jean-François Boisnon, Chris Jensen, François Petit, Christophe Barwinek, Viktoriya Ryapolova und Felix Bierich genannt werden: Mit dieser Produktion hat sich das Zürcher Ballett zu Beginn der Spielzeit 2008/09 eindeutig an die Spitze aller unserer Opernballette katapultiert.

Es grenzt an ein Wunder, was Spoerli da bewirkt hat – und das mit einem Repertoire, das solide auf den Eigenkreationen basiert sowie einer umfangreichen Klassikerauswahl (vom unterschiedlicher Qualität) – hinzu kommen die so eigengeprägten choreografischen Handschriften von Balanchine, Cunningham, van Manen, Kylián, Tharp, Wheeldon und Lin Hwai-min – und nun also der große Forsythe-Abend, gleichsam nobilitiert weil ästhetisch purifizierter als von seinem eigenen Ensemble präsentiert (das ohnehin heute nicht mehr in der Lage ist, die komplette Version zu tanzen). Welch ein Jammer, dass Forsythe, der so eindeutig der legitime Erbe von Petipa und Balanchine ist, sich ständig darum bemüht, unter dem Diktat der zeitgemäßen Korrektheit im Zeichen des modischen Border-Crossing Anleihen bei den anderen Künsten aufzunehmen – den Hedegefonds des klassischen Balletts!

 

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