Das „Magnificat“ zum „Auferstehungs“-Trionfo umgewidmet

Wie Heinz Spoerli Forsythes Bach-Hinrichtung in „Artifact“ rächt

oe
Zürich, 25/04/2009

Gewaltig der Kosmos, der sich erschloss, als Balanchine 1941 das Tor zum „Concerto Barocco“ aufstieß! Ahnungen der unermesslichen Weite des zu entdeckenden musikalischen Neulands, das den Namen Johann Sebastian Bachs trug, hatte es gegeben: Doris Humphreys „Air for the G String“ beispielsweise (New York, 1928) und Bronislava Nijinskas „Étude de Bach“ (Paris, 1931). Aber doch nichts, was sich der Majestät des „Concerto Barocco“ hätte vergleichen können. Auch erfolgte die choreografische Eroberung des Bachschen Oeuvres nur schrittweise – ungehemmt eigentlich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dann allerdings gab es kein Halten mehr. Ob kammermusikalische Miniaturen, Solostücke, geistliche und weltliche Kantaten, Orchesterkonzerte, die großen Oratorien und Messen oder so enigmatische Werke wie „Die Kunst der Fuge“ oder „Das musikalische Opfer“: sie alle haben sich inzwischen tänzerisch die Bühnen der Welt erobert.

Allein die Zahl der Produktionen der kompletten „Goldberg Variationen“ oder der Suiten für Solo-Cello ebbt noch immer nicht ab. Choreografische Wegbereiter dieser kontinuierlichen Bach-Rezeption waren John Neumeier in Hamburg und Paris und Heinz Spoerli in Düsseldorf und Zürich. Eine erste Annäherung an Bach erprobte Spoerli mit den „Inventionen“ 1974 in Basel. In den folgenden Jahren machte er eher einen großen Bogen um Bach, choreografierte dafür umso mehr Vivaldi (und auffallend viel Brahms). Dann allerdings folgten in Düsseldorf 1993 die „Goldberg Variationen“, eine Großtat, die bis heute eins seiner Markenzeichen geblieben sind und inzwischen auf vielen Gastspielen der Zürcher in allen Teilen der Welt zu sehen waren.

Nach der berühmten, leicht historisierenden Robbins-Version von 1971 überraschte Spoerli durch seine sportiv-athletische Eleganz. Poetischer geht es dann in seinen zwei Teilen der sechs Suiten für Violoncello solo von Bach zu, die auf der Bühne vom Solocellisten des Zürcher Opernorchesters gespielt werden: „… und mied den Wind“ (1999) und „In den Winden im Nichts“ (2003). An ihren Titel knüpft auch sein neuestes Stück an, in dem er erstmals mehrere Kompositionen von Bach aus den Jahren 1711 bis 1731 zusammenfasst: „Wäre heute morgen und gestern jetzt“ – als zeitübergreifender Reflex auf die einzelnen Stationen der Lobpreisung Marias, die in der Schlussfassung von 1731 als „Magnificat“ das grandiose Finale des 75 Minuten langen pausenlosen Abends bildet.

Als Mixtum compositum aus instrumentalen Solostücken, dem dritten Brandenburgischen Konzert, zweier geistlicher Kantaten und dem „Magnificat“, BWV 243, stellt es so etwas wie ein zusätzlich gewonnenes posthumes Werk Johann Sebastian Bachs aus seiner mittleren Schaffensperiode dar. Natürlich wird in Zürich live musiziert, unter einem der heute international renommiertesten Dirigenten, Marc Minkowski, mit ersten Gesangssolisten des Opernensembles und dem Orchester La Scintilla der Zürcher Oper (im Gegensatz zu der ebenfalls an diesem Wochenende stattfindenden Premiere von Angelin Preljocajs „Schneewittchen“ beim Staatsballett Berlin zu „Musik vom Tonträger“ – was für ein Armutszeugnis der Staatskapelle Berlin!) Bei diesem Bach-Arrangement kommt aber noch etwas hinzu!

Acht Monate nach der Zürcher Premiere von William Forsythes „Artifact“, seiner Bach-Paraphrase über die Chaconne aus der Partita d-moll für Violine solo, dieser gnadenlosen musikalischen Hinrichtung Bachs durch das Fallbeil des krachend niedersausenden Eisernen Vorhangs, erscheint das neue Ballett wie ein plötzlich wiederaufgetauchtes Oratorium über die Auferstehung Bachs: eine geradezu abenteuerliche Spekulation, zu rechtfertigen allenfalls als moderne Variante des von Bach selbst vielfach angewendeten Parodieverfahrens (der Umwertung existierender Kompositionen in einem neuen Sinnzusammenhang – hier besonders nahe liegend durch die Verwandtschaft der Partita BWV 1004 für Violine mit der Sonate für Violine solo g-moll, BWV1001). Das Resultat ist die Gewinnung eines Bachschen Großwerkes, das eine Vielzahl tänzerischer Formen präsentiert, Pas de deux und de trois, kleinere Ensembles und große Corps-Formationen, choreografiert von Spoerli in seiner unverkennbar neoklassisch grundierten Handschrift, aufgeladen mit elektrisierender Hochspannung und wie aus der Spritzpistole in den von Peter Schmidt entworfenen Raum projiziert, von den Tänzerinnen und Tänzern des Zürcher Balletts in der XX-Qualität mit dem Markenzeichen Made in Zurich realisiert – ein vorweggenommenes Pfingstwunder der Ausgießung des Tänzergeistes.

Zugegeben, dass die Violinsonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 nicht ganz die musikalische Dichte und Dringlichkeit der Partita BWV 1004 hat (der die Chaconne in „Artifact“ entstammt). Zugegeben auch, dass die vier Sätze von BWV 1001 – vorwiegend als Pas de deux choreografiert, etwas zähflüssig geraten sind (mit Ausnahme des dritten Satzes (von Arman Grigoryan und Vahe Martirosyan als Siciliano selig beschwingend über die Bühne gejagt), so addieren sich die ausgesuchten Sätze doch zu einer alles in allem imponierenden Summe heutiger kammertänzerischer Expressivität – ganz im Sinne des „Wäre heute morgen …“ – einmal ganz abgesehen von der mitreißenden Eskalation des großen Corps im „Magnificat“. Fehlt eigentlich zur Krönung nur noch das „Et resurrexit“ – an diesem Ort und acht Monate nach dem Fallbeil des „Artifact“ eindeutig auf unseren Herrn Johann Sebastian Bach bezogen.

 

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