„Faust“-Tanzstück von Tarek Assam

Uraufführung am Stadttheater Gießen

Gießen, 08/04/2008

„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick.“ Derart monologisiert Faust bei seinem Osterspaziergang, die Erstpublikation fand vor ziemlich genau 200 Jahren statt. Goethes „Faust“ zählt zu der Deutschen Lieblingsdichtung und wohl keine zweite Gedichtsammlung hat es auf so viele Kernsätze gebracht, die in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen sind: vom Pudels Kern, über die „zwei Seelen, ach, in meiner Brust“ bis zum Ewigweiblichen, das uns hinanzieht. Doch nicht nur poetisch schön ist dieses Stück, an dem Goethe quasi Zeit seines Lebens gearbeitet hat, sondern auch noch tiefschürfend philosophisch. Um mit Matthias Beltz zu sprechen: Wo der Deutsche hingrübelt, da wächst kein Gras mehr.

Folgerichtig sind darüber meterweise Texte geschrieben und kiloweise Bücher gedruckt worden, um sich der Komplexität angemessen zu nähern. Was Goethe selbst nicht für aufführbar hielt, erfuhr jeweils zeitgeprägte Interpretation für Bühne und Film. Berühmte Namen säumen den Weg: als Regisseure Gustav Gründgens und Fritz Murnau, als Schauspieler Emil Jannings und Klaus Maria Brandauer.

Dass es auch ohne Worte gelingt, die Grundstruktur des Stücks ansprechend und verständlich auf die Bühne zu bringen, das beweist derzeit Tarek Assam, Choreograf und Direktor der Tanzcompagnie Gießen. Seine Tanzversion von Faust, „der Tragödie erster Teil“, hatte am Samstag (5.4.) gefeierte Uraufführung. Ihm ist es gelungen ein Tanzstück zu kreieren, das an poetischer Kraft dem literarischen Vorbild nicht nachsteht, und es in seiner Konzentration auf das Wesentliche zugleich zeitgemäß interpretiert. Zum durchgängigen Mittel der Reduktion gehört der Verzicht auf den Prolog und die Walpurgisnacht, es wird anschaulich über das ebenso schlichte wie eindrucksvolle Bühnenbild von Suse Tobisch. Ein schwarzer Hintergrund, der auch mal Kellerfenster in großer Höhe zulässt, dessen seitlich vorgezogene Ecke unterwartet einen Turm preisgibt, der sogar besteig- und betanzbar ist. Dazu kommt die Stimmungen und Räume zaubernde Lichtregie (Manfred Wende). Auch für die Kostüme zeichnet Tobisch verantwortlich: farblich fein aufeinander abgestimmt vermitteln sie einen zeitlosen Eindruck von Alltags- wie Festkleidung, zugleich sind historische Zitate geschickt integriert.

Der hör- und fühlbare Gesamteindruck wird geprägt durch die gelungene, dreigeteilte Musikauswahl. Der erste Zugriff galt den dramatischen und filigranen Kompositionen von Arthur Honegger (1892-1955), das sind Auszüge aus dessen symphonischen Werk und von seinen Filmmusiken für Hollywood. Eher zufällig stieß man während der Proben auf zwei Stücke des zeitgenössischen Komponisten Michael Rot, von dem zwei lyrische Passagen für Violine und Orchester gewählt wurden. Diesen Part setzt das Gießener Philharmonische Orchester unter dem Dirigat des stellvertretenden GMD Herbert Gietzen auf angemessene und gefühlvolle Weise um.

Den dritten und bühnenwirksamen Teil der Musik übernimmt Manfred Becker mit seinem Akkordeon. Weiß geschminkt, im langen schwarzen Mantel und mit roter Schirmmütze erinnert er an eine Mischform von Clochard und Gevatter Tod. Er verbindet mit seinem Instrument virtuos verschiedene Ebenen: Er legt emotionale Klangteppiche und bietet fröhliche Tanzmusik, er schafft fließende Übergänge zwischen den Tanzszenen und vermittelt zu den orchestralen Teilen, er begleitet vor allem das Wirken Mephistos auf der Bühne, bringt aber auch bei den anderen Personen Stimmungen und deren abrupte Wechsel zu Gehör.

Das rastlose Suchen des Faust, auf Neudeutsch Selbstfindung genannt, ist ein urmenschliches Streben; im Tanz umgesetzt mit immer verzweifelter werdenden Laufattacken, bei denen er sich zum Schluss die Kleidung vom Leib reißt (Paul Zeplichal). Vom netten Jungen im Ringelpulli wandelt er sich zum körperbetonten Lebemann, der ein Tattoo mit Stolz zur Schau stellt und seine Lockenpracht mit viel Gel bändigt, um sein Aussehen an das von Mephisto anzunähern. Seine Seele an den Teufel zu verkaufen bedeutet, sich von hehren Idealen zu verabschieden und dem puren Lustgewinn zu frönen; dafür steht Mephisto, der in Assams Choreografie trotz seiner schwarzen Füße ein elegant-weltmännische Ausgabe ist, die an den Sänger Falko erinnert (Arthur Zakirov).

Das Erhoffen des persönlichen Heils im „Ewigweiblichen“, in der Macht der Liebe, hat seine ungewollten Seiten. Frauen werden schwanger und sitzen gelassen, in der Folge von ihrer Umwelt stigmatisiert. Der Tod erscheint als der einzige Ausweg. Grete (Carine Auberger) entwickelt sich vom Mauerblümchen zur liebenden Frau, die schließlich einsam und verzweifelt ihre Leibesfrucht tötet. In einem engen Käfig sieht sie ihrem Ende entgegen, einmal nur bäumt sie sich gegen ihr Schicksal auf, als Faust die Folgen seines Tuns erkennt und sie zu befreien versucht; ein stilles, aber berührendes Ende.

Außer diesen drei Hauptfiguren gibt es nur zwei weitere, mit Namen besetzte Positionen: die Nachbarin Marthe, die als Hippie-Mädchen freie Sexualität lebt und von Miranda Glikson lasziv und verführerisch dargestellt wird. Der Part der Mutter (Svende Obrocki) ist kurz: Sie schwebt auf einem Sofa sitzend ein, nimmt der aufmüpfigen Tochter das Geschenk Mephistos weg, in diesem Falle eine pinkfarbene Handtasche mit Handschuhen aus schwarzer Spitze, und wird bald darauf von Mephisto in einem kurzen Kampf erwürgt. Hierbei leistet der optisch veränderte Faust erstmals Hilfestellung und macht sich mitschuldig. Ansonsten gehen die beiden Tänzerinnen in den vielfältigen Aufgaben des Corps de Ballet auf, gemeinsam mit: Antonia Heß, Anne Sophie van Lippevelde, Masami Sakurai, Kai Guzowski, Hirotaka Seki.

Die kleine Gießener Tanzcompagnie beweist große Wandlungsfähigkeit und Teamgeist. Sie sind in der ersten Szene rot gekleidete Wesen mit Clownsnase und Tütü, die aus der Unterwelt hochsteigen und Faust bedrängen. Sie sind junge lebensvolle Menschen, die in Auerbachs Keller feiern und beim Osterspaziergang Händchen halten, und sie sind dynamische Hexen, die symbolkräftig ihre offenen Haare werfen und Gretes psychische Bedrängnis in der Gebetsszene veranschaulichen.

Zur Reduktion gehört auch der sparsame Einsatz von Requisiten wie die schon genannte Handtasche oder das ironische Zitat des legendären Pudels: hier in domestizierter Form, ausgestopft und an der Leine geführt. Ein Leitmotiv ist das Ausrollen diverser Teppichläufer. Diese symbolisieren (Lebens)Wege, die von wenigen vorgegeben, von anderen befolgt oder auch wieder verlassen werden. Manche Wege verbinden Menschen, andere führen ins Leere oder gar in den Abgrund.

Der Gießener Faust ist eine Tanzadaption, die das Zeug hat, in die Tanzgeschichte einzugehen. Es ist die vielschichtige Umsetzung eines komplexen Themas, die durch ihre Klarheit und Leichtigkeit besticht: optisch reduziert, musikalisch differenziert und tänzerisch überzeugend. Für Tanzfans ein Muss, für Schauspielfreunde eine Gelegenheit sich dieser Sparte zu nähern.

Die nächsten Möglichkeiten dazu gibt es am 20. und 25. April, am 2. Mai, während des Festivals TanzArt ostwest an Pfingsten (9.5.) und am 25. Mai.

www.stadttheater-giessen.de / www.tanzcompagnie.de

 

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