Eine Reise mit Hindernissen

Mainz (XXVII), Essen (Spuck 2x) und Berlin (Tutu) – eigentlich hatte es noch mehr sein sollen

oe
Stuttgart, 21/05/2008

Ein Wort in eigener Sache. Reisen sind für oe inzwischen zu einer ziemlichen Strapaze geworden. Nicht so sehr aus Kostengründen – obgleich die erheblich sind, denn nicht vergessen werden darf, dass sie alle selbst finanziert sind (ohne jeglichen Spesenersatz und auch ohne Honorar). Sondern rein aus Altersgründen: der fast tägliche Kräfteschwund ist unübersehbar. Das zwingt zu möglichst ökonomischer Planung. Stuttgart – Berlin mit der Bahn verkrafte ich heute kaum noch (die billigen Flüge müssen so weit im Voraus gebucht werden, was mein schwankender Gesundheitszustand nicht länger zulässt). Also wäre ein Zwischenstopp in, sagen wir Frankfurt, Hannover oder Braunschweig günstig. Wenn der Termin stimmt. Aber das klappt nur in Ausnahmefällen. Pausenlos Stuttgart – Berlin (oder umgekehrt) oder Stuttgart – Wien lässt mich total erschlagen ankommen, erscheint mir heute einfach nicht mehr zumutbar. Geplant war zum letzten Wochenende: Mainz (XXVII), Essen (ein zweites Mal „Leonce und Lena“), Wolfsburg (Göteborg-Finale) und Berlin (Tutu). Aber da hatte ich mich mit den Terminen verspekuliert. Auch das ja vielleicht eine Alterserscheinung.

Gewundert habe ich mich gleichwohl, dass mir Wolfsburg – durchaus oe-freundlich gesonnen – partout keine Karte zur Verfügung stellen konnte, weil man total ausverkauft war. Wie prima für die Veranstalter (wer hätte das vor ein paar Jahren für möglich gehalten?) Aber nicht eine einzige Karte? Zumal ich angekündigt hatte, dass die amerikanische danceviewtimes (sehr zu empfehlen für informationsneugierige Tanzfans: www.danceviewtimes.com) an Göteborg interessiert seien. Und zudem hatte ich mir eingebildet, dass man mich schon irgendwie in die Vorstellung bugsieren würde, selbst wenn ich unangemeldet erst eine Viertelstunde vor Beginn erscheinen würde. Denkste! Tut einem vielleicht ja aber ganz gut, von Zeit zu Zeit mal so einen Dämpfer verpasst zu kriegen!

Samstagabend also abermals Essen, die sechste Vorstellung von „Leonce und Lena“ – volles Haus, sehr freundliches Publikum, das aber erst peu à peu in Fahrt kommt und zum ersten Zwischenapplaus von Raimondo Rebeck und mir animiert werden muss (dann aber, auf den Appetit gekommen, selbst die Initiative ergreift). Der Anfang mit der pantomimischen Fotopose der manierierten Duodez-Gesellschaft (eine Reminiszenz an den „Grünen Tisch“?) erscheint mir schlecht getimt – viel zu lange ausgedehnt – und genau das Gleiche passiert dann nochmals zu Beginn des zweiten Aktes nach der Pause. Und um auch gleich noch meinen dritten Einwand abzuhaken: die allzu gestreckte, personell nicht ganz klar zu durchschauende Hochzeitszeremonie (zumal da das Brautpaar zu lange auf sich warten lässt).

Alles in allem aber bleibe ich bei meiner Einschätzung, die diese Produktion eindeutig in die Nachfolge der „Coppélia“ – „Nussknacker“ – „Gaité parisienne“-Tradition stellt. Und die Torhüter des literarischen Büchner-Erbes frage ich, wer schert sich heute schon noch um die literarische Abstammung von E.T.A. Hoffmann in „Coppélia“ und „Nussknacker“? Nein, bedauern kann ich nur, dass Spuck sich für „Leonce und Lena“ mit einem musikalischen Potpourri-Arrangement begnügt hat, aufgepeppt von Martin Donner (und höchst überflüssig auch noch mit ein paar Pop-Einlagen aufgemotzt), statt sich eine originale Partitur dazu komponieren zu lassen – oder zumindest wie Massine und Strawinsky in „Pulcinella“ eine à-la-Musik (übrigens nicht, wie neulich von mir behauptet, von Paisiello, sondern von Pergolesi inspiriert – in diesem Falle also unter Heranziehung der Strauß-Dynastie).

Vorbild hätte hier weniger das schlechte Beispiel der Rosenthal, Lanchbery und Mackerras für Massine, Cranko und Ashton sein sollen, sondern die durchaus eigen geprägten Adaptionen von Bizets „Carmen“ durch Schtschedrin für Alberto Alonso oder von Fortner, Steinbrenner und Kirchgässner für Cranko. Eine verpasste Gelegenheit! Denn gerade auch stilistisch in ihren konkret kritisch-sarkastischen Bezügen auf die total erstarrte Duodez-Aristokratie der nachnapoleonischen Ära sehe ich die absolute Einmaligkeit von „Leonce und Lena“ – etwa im Gegensatz zu den Komödien von Massine in „Les Femmes de bonne humeur“ oder „Gaité parisienne“ oder den Ballettkomödien von Henze und Walter sowie Mannes nach Molière. Spuck hat hier eine aus meiner Sicht historische Wegmarke gesetzt und eine eigenständige tänzerisch-pantomimische Bewegungssprache erfunden, abseits von aller mir gründlich suspekten (auch von Ratmansky in seinen russisch-sowjetischen Ballettkomödien praktizierten) konventionellen Ballettpantomimik, die mich diese „Leonce und Lena“-Produktion in die Nähe der Komödien von Alfred de Musset (oder – bitte Atemholen: von Mozarts „Così fan tutte“) rückt.

Und darum bin ich ein bisschen traurig, dass dieser Glücksfall von Ballett – und ganz besonders für das deutsche Ballett – eine meiner Meinung nach nicht entsprechende Würdigung in der deutschen Presse gefunden hat. Wenn ich‘s nicht übersehen habe, habe ich bis heute, fast vier Wochen nach der Premiere, nichts darüber in der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung gelesen. Freundliche Zustimmung durchaus – bis auf den gründlichen Verriss eines von mir sehr geschätzten Kollegen als Anwalt Büchners im tanznetz – aber wenig Verständnis für den Sonderrang dieser Kreation, durch die sich Spuck für mich eindeutig als legitimer Nachfolger der Saint-Léon – Iwanow – Massine – Cranko erwiesen hat.

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