„100 Jahre Ballets Russes“

Ein Interview mit Wolfgang Oberender über die Recherchen, Vorarbeiten und Konzept zur Jubiläumspremiere mit „Shéhérazade“, „Les Biches“ und „Once Upon An Ever After“

München, 01/12/2008

Im Herbst kürten 40 europäische Tanzkritiker in der Zeitschrift „ballettanz“ das Bayerische Staatsballett zur Kompanie des Jahres. Sie würdigten damit unter anderem die historische Arbeit des Ensembles, zu der die Rekonstruktion des „Corsaire“ zählt, oder die umfassende Recherche zu John Crankos Münchner Jahren und der ihm gewidmeten Terpsichore-Gala VII. An beidem war Wolfgang Oberender maßgeblich beteiligt: Isabel Winklbauer sprach mit dem Dramaturgen und stellvertretenden Ballettdirektor über das neue Programm „100 Jahre Ballets Russes“, das am 7.12. Premiere hat.

Herr Oberender, Glückwunsch zum Kritikerpreis. Dramaturgie und Hintergrundarbeit wird selten ausgezeichnet. 

Ja, es freut uns, wenn wir etwas gemacht haben, das den Menschen gefällt und – mir besonders wichtig – für die interessierte Ballettwelt nützlich ist. Beim Cranko-Projekt habe ich wirklich die komplette Personalakte und sämtliches Foto- und Filmmaterial aufgearbeitet. Hinsichtlich des „Corsaire“ gebührt unserer Pianistin Maria Babanina Ehre: Sie hat zur Erforschung der vielen Fassungen akribisch in Sankt Petersburg recherchiert, Besetzungszettel studiert und erstmals dokumentiert, was es mit dem legendären „Corsaire-Pas de deux“ (bzw. Pas de trois) wirklich auf sich hat. Er wurde erst 1915 choreografiert und hat wenig oder nichts mit Petipa zu tun! Unsere Kostümbildnerin Astrid Eisenberger wiederum hat für den aktuellen „Ballets Russes“-Abend die „Shéhérazade“-Kostüme von Diaghilews Ausstatter Léon Bakst rekonstruiert. Dafür hat sie ein Jahr lang alle Bakst-Entwürfe, alles mögliche Fotomaterial zusammengetragen und die Original-Kostüme in Museen von Stockholm und London vor Ort analysiert. Das war auch wieder sehr aufwändig.

Die Ballets Russes haben auf der ganzen Welt Spuren hinterlassen. Waren die Recherchen diesmal besonders schwierig?

Man muss sich als erstes fragen: Wer sind die Autoren von dem, was man zeigen will, und wer hat die Rechte? Im Fall von „Sheherezade“ etwa war unsere erste Anlaufstelle Isabelle Fokine, Enkelin Michel Fokines, die mit ihrem Bruder das offizielle Fokine-Archiv verwaltet. Selbst Tänzerin und dann Assistentin ihres Vaters, hat sie mit unserer Kompanie eine Fassung einstudiert, die sich ganz besonders um stilistische Authentizität bemüht. Michel Fokine hatte einen ganz eigenen Stil, der sich in „Shéhérazade“ bewusst vom klassischen Ballett absetzte. Aber bei allem Suchen nach der „Originalversion“ haben wir nicht auf die Premiere von 1910 zurückgegriffen, wo die Zobéide von der Schauspielerin Ida Rubinstein verkörpert wurde und die zehn Minuten kürzer war als man das Werk heute kennt. Wir haben den berühmten Pas de deux mit hereingenommen, den Fokine für sich und seine Frau Vera 1914 für eine Stockholmer Einstudierung geschaffen hat.

Haben Sie spannende Entdeckungen über Diaghilew, Nijinsky und Co. gemacht?

Naja, im zweibändigen Werk über die Ballettgeschichte Münchens von Pia und Pino Mlakar las ich zu meinem Entzücken, dass die Ballets Russes 1912 mit „Shéhérezade“ in München gastiert haben. Ich bin sofort ins Haupt-Staatsarchiv und habe die Besetzungszettel heraussuchen lassen. Und tatsächlich: Vaslav Nijinsky und Tamara Karsavina haben im Nationaltheater Zobéide und den Goldenen Sklaven getanzt. Solche kleinen Entdeckungen finde ich wunderbar: Man sieht vor sich plötzlich Nijinksy und die Karsawina die Maximilianstrasse entlang promenieren. Den Besetzungszettel zeigen wir den Zuschauern natürlich im Programmheft.

Wird das Programmheft zu den „Ballets Russes“ also wieder voller alter Schätze sein?

Weniger. Da wir drei Stücke herausbringen – „Shéhérezade“, „Les Biches“ und Terence Kohlers Uraufführung „Once Upon An Ever After“ – blieb mir diesmal leider wenig Zeit für spezifische Forschungen. Dafür wird das Thema aber nicht mit einer Premiere vorbei sein: Vom 17. Februar bis 24. Mai 2009 zeigt das Deutsche Theatermuseum München eine korrespondierende Ausstellung, unsere Terpsichore-Gala VIII nächsten Mai ist den Ballets Russes gewidmet, und wir planen mehrere „Ballett Extras“ dazu.

Nicht alle Kompanien feiern. Was bedeuten die Ballets Russes dem Bayerischen Staatsballett?

Die treibende Kraft hinter dem „Ballets Russes“-Projekt ist eigentlich meine Kollegin Bettina Wagner-Bergelt. Und zwar schon seit Jahren. Für sie gab nicht das Jubiläum den Ausschlag, sondern die Tatsache, dass Diaghilews Kompanie der Dreh- und Angelpunkt der Moderne ist – ihres Spezialgebiets. In den Werken von Fokine, Nijinsky und Massine manifestiert sich schließlich der Abschied vom Spitzenschuh, die Emanzipation des Tänzers vom Ballerinenträger zum Solisten, die Befreiung der Frau von gesellschaftlichen und körperlichen Korsetts, die sexuelle Revolution... Es war uns deshalb wichtig, das Thema mit anderen Kunstbereichen zu vernetzen.

Außerhalb der Fachwelt sind Waslaw Nijinsky und Anna Pawlowa die berühmtesten Vertreter der Ballets Russes. Was machte sie als Tänzer so besonders?

Zu Pavlova muss man sagen, dass sie eigentlich nicht für die Ballets Russes stehen kann. Der weibliche Star der Kompanie war vielmehr zunächst Tamara Karsawina, und danach folgte eine Reihe großer Ballerinen bis hin zu Olga Spessiwtzewa. Als Anna Pawlowa der Truppe beitrat, war sie schon 28 und in Russland ein Star – Fokine schuf den „Sterbenden Schwan“ bereits 1907 für sie. Sie war ein Fixstern für sich. Sie verließ die Ballets Russes auch 1911 schon wieder, um mit ihrer eigenen Kompanie die Welt zu bereisen. Sie hätte sich wohl kaum von Diaghilew etwas sagen lassen.

Es gibt auf YouTube Aufnahmen von Pawlowa. Woran liegt es, dass diese alten Filme oft so enttäuschend sind? Haben die Stars der Jahrhundertwende ihren Ruhm etwa nicht verdient?

Film kann Tanz nicht abbilden. Man sieht darin nur Alter und Vergänglichkeit. Die einzig verlässlichen, objektiven Zeugnisse für die Kunst eines Tänzers sind meiner Meinung nach die subjektivsten: nämlich Augenzeugenberichte. Und über Pawlowa und Nijinsky gibt es davon viele, von ganz unbefangenen Zuschauern ebenso wie von den kenntnisreichsten Leuten, die sich alle begeistert und tief berührt äußern. Die enorme Wirkung, die diese Tänzer auf Mit- und Nachwelt hatten, zeigt ihren Rang mehr als es je ein Filmdokument könnte.

Warum fasziniert Nijinsky heute noch so sehr?

Er ist allein schon durch sein tragisches Leben ein Mythos. Seine große Zeit bei den Ballets Russes war geprägt von seiner unvergleichlichen künstlerischen Potenz, Technik, Ausstrahlung, sowie persönlichen Dramen und choreografischen Skandalen. Und dann ist da die unvorstellbare Tragödie, dass dieses Genie dem Wahnsinn verfiel, mit dem er noch einunddreißig Jahre lang lebte.

Fokine ging 1914, Nijinsky choreografierte eigentlich nur zwei Jahre lang für Diaghilew, Léonide Massine ging 1921, Bronislawa Nijinska musste Mitte der 20er Jahre George Balanchine Platz machen. Warum blieben die Choreografen nie lange bei Diaghilew?

Diaghilew liebte das Neue. War sein aktueller Lieblingschoreograf auf dem Höhepunkt seiner Kunst, trennte er sich von ihm und etablierte ein neues, blutjunges Talent. So ging es schon 1912, als Diaghilew Nijinsky „L’Aprés-midi d'un Faune“ choreografieren ließ, wogegen sein bisheriger Star-Choreograf Fokine unter weit schlechteren Bedingungen „Daphnis und Chloë“ proben musste – und schließlich gekränkt kündigte. Ein Jahr später entließ Diaghilew dann Nijinsky. Der Grund war hier aber nicht künstlerischer Natur, sondern Eifersucht. Nijinsky war seit langem sein Liebhaber, hatte nun aber die Tänzerin Romola de Pulszky geheiratet. Man kann jedoch vermuten, dass Nijinsky über kurz oder lang Massine zum Opfer gefallen wäre.

Die Kompanie machte auch wegen ihres erotischen Stils Furore. Rührt der vielleicht auch aus dem dramatischen Privatleben der Beteiligten her?

Das Privatleben beeinflusst die Tagesform eines Künstlers. Aber für Choreografie und Ballettdirektion war es damals ein genau so wenig zu berücksichtigender Faktor wie heute. Nun könnte man sagen: Diaghilew machte doch seine privaten Geliebten regelmäßig zu Tänzerstars und Choreografen – wobei ich nicht weiß, ob er daneben nicht viele sexuelle Abenteuer hatte, die nichts mit Ballett zu tun hatten. Es sieht aber so aus, als ob er sich tatsächlich immer nur in große Talente verliebte. Und sie der Avantgarde zuliebe auch wieder aufgab. Für Diaghilew stand immer die Kunst an erster Stelle.

Die Ballets Russes wandten sich vom klassischen Ballett ab und machten einen emotionalen, freieren Tanzstil salonfähig. Hätte die Truppe diesen Stil auch entwickelt, wenn sie in St. Petersburg geblieben und 1909 nicht nach Paris emigriert wäre?

Für Fokine war schon zu russischen Zeiten die Petipa-Klassik vorbei. Er wollte den alten Formalismus nicht mehr, wie alle Künstler der russischen Avantgarde. Im Westen waren Fokine und seine Nachfolger künstlerischen Einflüssen natürlich viel direkter und vielfältiger ausgesetzt. Und in der Sowjetunion Lenins und Stalins wären die Ballets Russes ohnehin nicht zu denken. Nicht umsonst haben auch die letzten russlandtreuen Ballets-Russes-Künstler mit der Revolution ihr Land verlassen. Bis in die 80er Jahre hinein gab es übrigens in der Sowjetunion so gut wie keine Ballets-Russes-Tradition. „Der Feuervogel“ und „Shéhérazade“, mit denen etwa das Mariinsky-Ballett seit einigen Jahren weltweit spektakulär gastiert, wurden erst Anfang der 90er von Andris Liepa und Isabelle Fokine in Moskau rekonstruiert.

Mit den historischen Fassungen von „Shéhérezade“ und „Les Biches“ bietet das Staatsballett die lebendige Geschichte der Ballets Russes. Wie passt Terence Kohlers Werk dazu, das sich mit Ballerinenfiguren des 19. Jahrhunderts befasst?

Vergangene Themen stehen nicht im Widerspruch zum Stil der Ballets Russes. Deren große tanztechnischen Revolutionen geschahen oft zu ganz alten Themen, etwa in „Les Sylphides“ oder „Daphnis und Chloë“. Kohler ist jung und talentiert, er verkörpert den Aufbruch – somit passt er bestens zu Diaghilews Idee ständiger Erneuerung durch neue Choreografen. Aber entscheidend bei „Once Upon An Ever After“ ist die Kombination „junger Choreograf und große freie Künstlerin“. In unserem Fall ist das Rosalie, die eben keine herkömmliche Theater-Ausstatterin ist, sondern eine weltweit anerkannte Künstlerin mit eigenem Profil. Das Zusammenwirken dieser beiden Kräfte macht den Reiz, die Herausforderung des Stückes aus und knüpft an die Ballets Russes an. Dazu kommt die Musik, die bei Diaghilew nie nur Begleitung war, sondern gleichberechtigt gesehen wurde. Und so hat Kohler sehr bewusst zum denkbar Anspruchsvollsten gegriffen, zu Tschaikowskys „Pathétique“. Choreografie, Design und Musik, das sind die drei Säulen der Ballets Russes.

Herr Oberender, vielen Dank für das Gespräch

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