Das Vergehen der Zeit

Der „Steve Reich Evening” von Anne Teresa de Keersmaeker eröffnet Tanz im August

Berlin, 18/08/2007

Anne Teresa de Keersmaeker verdankt ihren Weltruhm nicht zuletzt einer unnachahmlichen Mischung aus formaler Strenge und gekonntem Entertainment. Während sich der Fachmann für die oftmals geniale Umsetzung musikalischer Strukturen in Bewegung begeistert, liebt das große Publikum die flämische Choreografin für ihre Massenszenen, die starken Frauenfiguren und den immer wiederkehrenden doch stets unterhaltsamen Kampf der Geschlechter. Auch de Keersmaekers „Steve Reich Evening”, zugleich eine Hommage an den amerikanischen Komponisten und Rückschau auf die letzten 25 Jahre ihres eigenen Schaffens, bildet da keine Ausnahme.

Tänzerischer Ausgangspunkt des Abends ist „Fase”, der Meilenstein in Keersmaekers Werk, mit dem sie 1982 zu internationaler Beachtung gelangte. Zu den Klängen von Reichs „Piano Phase” vollziehen zwei Tänzerinnen zunächst synchron eine Reihe einfacher Gesten – Drehungen, Armschwünge, einen Schritt vorwärts, einen Schritt zurück. Je länger die Choreografie andauert, desto mehr verfällt jede der beiden in ihren individuellen Rhythmus, und ihre Gesten verschieben sich gegeneinander. In seinem radikalen Minimalismus hat das Stück bis heute nichts von seiner Kraft verloren und erzeugt denselben hypnotischen Sog wie Reichs Komposition.

Weitaus opulenter präsentieren sich Kaersmaekers neue Choreographien: In „Eight Lines”, einer Komposition für acht Stimmen, umkreisen acht Frauen einander wie in einer Art fröhlichem Ritual. Auch wenn hin und wieder eine von ihnen am Bühnenrand stehenbleibt, zieht sich eine stetige Bewegung durch das Geschehen. Gruppen bilden sich, lösen sich auf, Arm- und Hüftschwünge spiegeln sich, wandern und werden wieder aufgenommen wie musikalische Motive. Immer wieder glaubt der Zuschauer die Systematik in der geordneten Unordnung zu erkennen – und wird sofort wieder eines Besseren belehrt, denn die Choreografin hat die Technik der unmerklichen Verschiebung perfektioniert. Wesentlich statischer verhält sich zunächst die Männergruppe in „Four Organs”.

Während vier Orgeln, rhythmisiert durch das Rasseln von Maracas, einen Akkord in schier endlose Länge ziehen, verfallen die fünf Tänzer immer wieder in stilisierte Posen, um dann durch Drehungen oder Rollen über den Boden daraus auszubrechen. Im Gegensatz zur harten, fast metallischen Arm- und Beinarbeit der Frauen bewegen sich die Männer fließend und organisch, oft scheinen sie bei der Suche nach ihrem Zentrum aus dem Gleichgewicht geraten. Gegen Ende des Stückes geben sie ihren Bewegungsimpuls nach Art einer Contact-Improvisation an eine einzelne Tänzerin weiter, die ihn durch ihren Körper wandern lässt.

Eingefasst werden die drei Stücke durch zwei musikalische Installationen, die jede auf ihre Weise musikalische Geschichte geschrieben haben. In Steve Reichs „Pendulum Music” zu Beginn des Abends baumeln zwei Mikrophone an Kabeln aufgehängt über zwei offenen Lautsprecherboxen. Hin- und herschwingend erzeugen sie einen meditativen Strudel aus Rückkopplungen, aus den sich durch die allmähliche Verlangsamung der Pendelbewegung das Phänomen der Phasenverschiebung erschließt – einem der Kernbestandteile von Reichs Kompositionen. In Györgi Ligetis „Poème symphonique pour cent métronomes”, das de Keermaeker von 17 Jahren in ihrem Stück „Stella” verwendet hatte, setzen die Tänzer einhundert Metronome in Bewegung, die durch ihr minutenlanges Ticken des Vergehen der Zeit für den Zuschauer plastisch erfahrbar machen.

Leider konnte sich die Choreografin nicht entschließen, den Abend mit dem wunderbaren Schlussbild eines stehenbleibenden Metronoms zu beenden – und genau an diesem Punkt hört die Aufführung auf, ein Meisterwerk zu sein. Mit Trommelwirbeln läutet „Drumming” aus dem Jahr 1996 das Finale ein und demonstriert unfreiwillig die Halbwertszeit künstlerischen Schaffens. Während sowohl das Frühwerk „Fase” als auch die beiden neuen Stücke, absolut heutig wirken, hinterlässt das streng choreographierte Stammesfest in seiner inszenierten Feier der Lebensfreude und seinen entfesselten Mann-Frau-Duos einen seltsam antiquierten Eindruck.

Steve Reichs Musik ist immer auch eine Reflexion über das Vergehen von Zeit – und die geht eben auch an Kunstwerken nicht immer spurlos vorbei. Das Eröffnungspublikum von Tanz im August schien dennoch restlos begeistert.

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