Schattenlose Vergangenheit

Zum 70. Geburtstag von Marcia Haydée: „Romeo und Julia“ frisch wie am ersten Tag

oe
Stuttgart, 21/04/2007

Da liegt er vor mir, der langsam vergilbende quadratische Besetzungszettel des Großen Hauses der Württembergischen Staatstheater Stuttgart (noch in der Mehrzahl!) vom 2. Dezember 1962 mit der Neuinszenierung „Romeo und Julia“ in der Choreografie und Inszenierung von John Cranko. Aus dem Haus Capulet: Marcia Haydée als Julia und Egon Madsen als Graf Paris – aus dem damaligen Haus Montague kein heute noch Aktiver (dafür gleich drei vitale Romeos, einer fitter als der andere: Jason Reilly, Filip Barankiewicz und Friedemann Vogel – mit ihrer mütterlichen Gräfin, alias Marion Jäger, sozusagen als eine Vorfahrerin Ursula von der Leyens). Unter den Zigeunerinnen immerhin eine gewisse Georgette Tsinguirides, inzwischen übergewechselt ins Fach der wieselfreudigen Amme. Übrigens in der rechten unteren Ecke des Besetzungszettels der Vermerk: Preise von DM 3,50 bis DM 15.

Und nun also eine Gala zum 70. Geburtstag von Marcia Haydée, die damalige Julia – als Lady Capulet wäre sie heute zweifellos Präsidentin des Senats von Verona (mit Marcis Lesins als Alterspräsident). Das sind 44 Jahre, 4 Monate und 19 Tage nach der Premiere oder „Romeo und Julia“ als die dienstälteste Produktion des deutschen Theaters – der „Jedertänzer“ des deutschen Balletts! Man denkt an den Konzern des Nederlands Dans Theaters mit seinen NDT I, II und III Kompanien. Im Vergleich dazu würde das Stuttgarter Ballett dieses Abends wohl als StB IV fungieren, gäbe es denn ein StB II (gab es ja sogar einmal: das Noverre-Ballett von 1970) und III. Und wie sollte man das nennen? Die Post-Senioren? Oder den alternativen VfB – Verein für Bewegungsspiele? Immerhin: wenn das Geburtendefizit bei uns weiterhin so rapide Fortschritte macht, könnten Ballettabende zur nächsten Jahrhundertwende so aussehen wie diese „Romeo und Julia“-Vorstellung.

Ob das Publikum wohl dann auch noch so begeistert wäre wie an diesem Wochenende? Das feierte alle Beteiligten (und natürlich auch sich selbst) wie auf einer vorweggenommenen Goldenen Hochzeit. Und hier waren ja nun auch mehrere Generationen vereint – wie bei einer Familienfeier. Und sie waren von weither zusammengekommen. Und wer nun denkt, dass hier eine Versammlung der Lemuren tagte, erlebte eine Vorstellung, die förmlich barst von theatralischer Force de frappe. Dass man gar nicht mehr unterscheiden konnte: war das nun ein Ehemaliger (immerhin wies der Besetzungszettel sechs Gäste aus – nicht gerechnet diejenigen, die nicht mehr zum aktiven Tänzerstamm der Kompanie gehören, und die doch wie Tamas Detrich als Wütebold Tybalt, Rolando d‘Alesio als Graf Montague, Krzysztof Nowogrodzki als Zwillingsbruder des Mercutio von Alexander Zaitsev über die Bühne tollten, oder wie Christian Spuck bescheiden in die Harz IV-Rolle des herzoglichen Sänftenträgers zurückgeschlüpft waren).

Und diese Altvorderen, darunter immerhin Hamburgs neuer Ehrenbürger John Neumeier als Pater Lorenzo und Paul Chalmer aus dem Leipziger Handelsherrengeschlecht der Paris (endlich wissen wir jetzt, warum Goethe die Messestadt als Klein-Paris pries) inspirierten die lokalen Stammhalter, dass die noch einmal ein Extraquantum an Stuttgarter Esprit dramatique zulegten: die sich so wundersam lyrisch verströmende Sue Jin Kang als Julia mit ihrem Port de bras, so kantabel wie ein Lied ohne Worte, den burschikosen Eric Gauthier als Benvolio, die ihren spanischen Verführungscharme kokett ausspielende Alicia Amatriain als Rosalinde – inklusive all die anderen Stuttgarter so total integrierten Veroneser. Die an diesem Abend tanzten, als ob sie ständig unter Hochspannung stünden.

Und dann, nach dem Schlussvorhang ging‘s erst richtig los mit der Feierei! Mit dem Blumenkorso für Marcia und dem Anderson-Chorus der 1396 (was sind die Fischer-Chöre dagegen – hätte nicht viel gefehlt, und James Tuggle hätte sich Reid Anderson angeschlossen und sein Staatsorchester in Mahlers Sinfonie der Tausend übergeleitet). Und Marcia an der Seite ihres Traumpartners, dem umjubelten Richard Cragun, zurückgekehrt als Elder Statesman aus seinem brasilianischen Exil. Und auf der Bühne die unsichtbare Geisterschar der geschlechtslosen Wilis aus fünfzig Jahren von Nicholas Beriosoff über Peter Wright, Anne Woolliams, Alan Beale und Alex Ursuliak bis zu Valentina Savina, von Hella Heim, Helga Heinrich und Xenia Palley über Ana Cardus, Silvia Kesselheim, Eileen Brady, Judith Reyn und Susanne Hanke bis zu Julia Krämer, Yseult Lendvai und Margret Illmann, von Ray Barra über Hugo Delavalle, Heinz Clauss, Jean-Christophe Blavier, Roland Vogel, Mark McClain, Randy Diamond, Christian Fallanga, Robert Tewsley, und Ivan Cavallari – und danach habe ich aufgehört alle diejenigen zu zählen, die aus dem Off ihre Glückwünsche sandten. Und wenn Birgit Keil dabei gewesen wäre, wäre sie sicher vom Publikum ebenso herzlich begrüßt worden wie der Gast aus dem fernen Rio de Janeiro.

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