Bewegte Spiegelbilder

Performance von Marco Santi zu Gast in Ludwigsburg

Ludwigsburg, 25/11/2007

Zehn Tänzer in Alltagskleidung. Am Rande einer langen Spiegelfläche, die den Fußboden der ehemaligen Pferdestallungen bedeckt, sind sie von den Zuschauern kaum zu unterscheiden. Einige stehen, andere hocken, den Blick ins reflektierende Spiegelbild versenkt. Ausgangssituation der Performance „Verkörperte Spiegel“ von Marco Santi, die er vor zwei Monaten in Osnabrück uraufgeführt hat und als Beitrag zum 25. Jubiläum und auf Einladung der Ludwigsburger Tanz- und Theaterwerkstatt in der Karlskaserne präsentiert.

Die gespannte Ruhe wird durch das Getöse zwei mannshoher Gasflaschen unterbrochen. Hinter den Zuschauern rollen sie wummernd über den harten Beton. Der Ton einer Frauenstimme durchschneidet das alte Tonnengewölbe, trifft auf einen ähnlich rauhen Ton undefinierbaren Ursprungs. An der Stirnseite der Aktionsfläche residiert - einem Master of Ceremony gleich – der Musiker Roderik Vanderstraeten mit diversen Instrumenten, darunter Metallstücke, Schlagstöcke, Besen und Glocken. Tänzer, die vereinzelt oder als Paar verharren, während andere von motorischer Rastlosigkeit getrieben, durch den Raum schlurfen, streifen, schnellen. Oder sich am Ufer zu Clustern zusammenrotten, sich hektisch der Kleidung entledigen und in die Klamotten eines anderen schlüpfen.

Eine strukturierte Improvisation, die mit wenig Mitteln alles Vorhandene einbezieht. Augenscheinlich ist Vieles in diesem Kräftespiel der Körper und Gegenstände erlaubt. Ein spannendes Geflecht präexpressiver Elemente, aus Impuls und Resonanz, aus Widerstand und Nachgeben, aus Publikumsnähe, Identitätssuche und Raumerkundung. Dabei ist die Spiegelfläche sowohl gemeinsame Reflexionsebene, zu der die Akteure zurückkehren können – hin und wieder mit Zuschauern an ihrer Seite- als auch ein trennender Strom, der die auf der einen Seite sich nach denen der anderen sehnen lässt. Im unausgesprochenen Regelwerk, das sich beim Betrachten allmählich erschließt, scheint lediglich das Betreten der Hochglanzfolie verboten zu sein. Kein Ballettsaal ohne Spiegel. Für Tänzerblicke ein immer verfügbares Gegenüber, eine objektive Ebene und eine wichtige Kontrollinstanz. Indem Santi den Spiegel aus der Vertikalen in die Horizontale legt, weist er ihm eine (im Wortsinn) grundlegende Bedeutung zu, die in der Konsequenz zu einer völlig anderen Haltung führt als im akademischen Tanz. Hier das erhobene Haupt (manchmal bis zur Hochnäsigkeit), dort der gesenkte Blick, der Melancholie und (gewagt unmodern) Demut suggeriert. Dabei belässt es der Choreograf aber nicht: zu guter Letzt werden die einzelnen Spiegelfolien vom Boden gelöst und von Paaren behutsam durch Raum und Publikum getragen. Quasi ein Pas-de-Trois, in dem sich Teile der Welt spiegeln, so wie sie ist, ganz schön verzerrt.

Santi gehört zu den erstaunlichsten Tänzerpersönlichkeiten, die das Stuttgarter Ballett hervorgebracht hat. Mit 18 Jahren erhält er den Prix de Lausanne, zehn Jahre ist er Solist beim Stuttgarter Ballett, gestaltet parallel eigene Choreografien für die Noverre-Gesellschaft, für die John-Cranko Ballettschule, für das Stuttgarter Ballett, für Oper und Schauspiel und gegründet gemeinsam mit Christian Spuck 1995 das Marco Santi Danse Ensembles. 2005 verabschiedet sich der Hoffnungsträger der Freien Szene von Stuttgart mit „Dilemma“, einem Stück, das beispielgebend ist für seinen tanztheatralen Ansatz, den er nun, mit der mobilen Produktion „Verkörperte Spiegel“ konsequent weiter entwickelt hat.

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